»Das Volk meines Vaters kämpfte auf Seiten der französischen Besatzer gegen die Kommunisten. Als der Krieg verloren war, ließen die Vietnamesen sie dafür büßen.«
»Es gibt vermutlich nicht allzu viele Montagnards hier in Houaphan.«
»Ein paar.«
»Erzähl mir von ihnen.«
Es schien sie zu freuen, dass sich der alte laotische Arzt für ihr Volk interessierte. Sie setzte sich zu Siri und erzählte ihm von einem jungen Mann, der als Pförtner beim Militär arbeitete, und einer befreundeten Familie, die für die Vietnamesen im Straßenbau tätig war. Und so weiter. Der Nachrichtendienst schien perfekt zu funktionieren. Trotz der Abgeschiedenheit des Dorfes wusste sie alles über die vielen Dutzend Auswanderer aus dem Zentralen Hochland. Schließlich kam sie auf jemanden zu sprechen, der Siris Interesse weckte.
»Dann ist da noch H’Loi«, fuhr sie fort. »Sie ist mit einem Laoten verheiratet. Sie war als Dienstmädchen bei einem hochrangigen vietnamesischen Soldaten beschäftigt, der inzwischen tot ist. Und …«
Da war er: der Zusammenhang. Siri fiel ihr ins Wort. »Weißt du zufällig, was aus der Familie geworden ist, für die H’Loi gearbeitet hat?«
»Sie meinen die Familie des Soldaten? Nein, Onkel. Ich weiß nur, dass sie nach seinem Tod eine Weile arbeitslos war. Aber dann hat sie das große Los gezogen und sich einen Kerl aus der Umgebung geangelt.«
»Weißt du zufällig, wo die beiden wohnen?«
»Na klar.«
»Ist es weit von hier?«
»Etwa eine halbe Stunde. Wenn Sie möchten, bringe ich Sie hin.«
Siri schickte Dtui mit Panoy und dem Führer zum Gästehaus zurück. Zwar hatte sie mit ihm dringend über ein anderes wichtiges Thema sprechen wollen, aber das konnte warten. Er hatte das Gefühl, dass es sich um etwas Ernstes handelte, und versprach, so bald wie möglich zurück zu sein. Dann machte er sich mit dem Montagnard-Mädchen in die umliegenden Hügel auf. Nur wenige Wanderer in Houaphan verließen die ausgetretenen Pfade, und das aus gutem Grund. Selbst die ausgetretenen Pfade pflegten von Zeit zu Zeit zu explodieren.
Das Dorf, in dem H’Loi wohnte, war so ärmlich, dass der Weiler, aus dem sie kamen, dagegen wie Manhattan wirkte. H’Loi war eine unscheinbare, fröhliche junge Frau Anfang dreißig, die mit einem extrem hässlichen, sehr viel älteren Mann zusammenlebte. Die Hochzeit hatte ihr die laotische Staatsbürgerschaft eingebracht. Die Not hatte die leidgeprüften Montagnards erfinderisch werden lassen. Die Frau sprach von Haus aus fließend Französisch, Vietnamesisch und zwei einheimische Dialekte. Seit ihrer Eheschließung hatte sie auch noch Laotisch gelernt. In jeder anderen Gesellschaft wäre sie eine gefragte Chefsekretärin oder Dolmetscherin gewesen. In diesem Dorf bekam sie Kinder und kochte. Sie wusste, dass es zwecklos war, mit ihrem Schicksal zu hadern.
Sie saß mit Siri in ihrer ärmlichen Hütte und sprach freimütig über ihre Zeit beim Oberst und seiner Familie. Als er in Ban Methuot im zentralen Hochland Vietnams stationiert gewesen war, hatte die Frau des Obersts H’Loi eingestellt. Der jungen Vietnamesin blieb keine andere Wahl. Sie konnte von Glück sagen, dass sie überhaupt Arbeit gefunden hatte. Dann zog sie mit der Familie ins gut fünfzehnhundert Kilometer entfernt gelegene Houaphan. Die Frau entpuppte sich als echter Drachen, ihre Tochter Hong Lan hingegen war ein nettes Mädchen und, um es mit den reizenden Worten H’Lois zu sagen, so klug und gewitzt wie eine Badewanne voller Richter. H’Loi war nicht nur Dienstmädchen und Köchin, sondern auch die Hauslehrerin des Mädchens. Die beiden wurden Freundinnen.
Als Hong Lan erkrankte, besuchte H’Loi sie jeden Tag im Hospital. Manchmal blieb sie sogar über Nacht. Hong Lan spielte die Sache herunter – sie habe leichte Bauchschmerzen, sonst nichts -, doch der Arzt hatte H’Loi anvertraut, dass es sich um etwas Ernsteres handelte. Sie musste zweimal operiert werden. Das Mädchen lag über einen Monat im Krankenhaus bei Kilometer 8 und erholte sich. Eines Tages tauchte wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Mutter auf und ließ Hong Lan in ein Militärkrankenhaus bei Xam Dtai verlegen. Dort konnte H’Loi sie nicht mehr jeden Tag besuchen, und so sah sie Hong Lan erst wieder, als das Mädchen nach Hause zurückkehrte.
Danach war Hong Lan nicht mehr die Alte. Sie war noch sehr schwach, obwohl sie die Operation angeblich gut überstanden hatte und bald wieder auf die Beine kommen würde. Aber da hatte H’Loi so ihre Zweifel. Trotz all der schönen Worte blieb Hong Lans Zustand unverändert. Die beiden führten lange Gespräche über Gott und die Welt. Einmal ließ das Mädchen durchblicken, dass sie sich während ihres Aufenthalts bei Kilometer 8 verliebt habe. Was H’Loi einen kleinen Schock versetzte, denn damit hatte sie nicht gerechnet. Obwohl Hong Lan den Namen des Mannes nicht verraten wollte, war ihren Erzählungen zu entnehmen, dass sie mit ihm auf recht vertrautem Fuße stand. Sie sagte, es gebe einen guten Grund, weshalb sie die Identität des Mannes nicht preisgeben könne.
Zu dieser Zeit machten jedoch bereits Gerüchte die Runde. H’Loi wusste von den schwarzen Magiern und ihren Liebestränken, ihren hypnotischen Fähigkeiten und ihren Opferungen. Da auch H’Lois Volk allerlei okkulte Riten praktizierte, wusste sie um die damit verbundenen Gefahren. Obwohl sie das Mädchen, für das sie neun Jahre lang gesorgt hatte, über alles liebte, wurde sie das Gefühl nicht los, dass Hong Lan nicht wusste, wovon sie sprach. Sie war verhext worden. Sie hatte noch nie von Liebe gesprochen, sich noch nie für Männer interessiert. Und jetzt, nach nur sechs Wochen in einem Höhlenkrankenhaus, hatte sie sich angeblich Hals über Kopf in einen Mann verliebt, den sie kaum kannte, einen Mann, der ganz und gar nicht zu ihr passte.
Als sie Hong Lan schließlich zur Rede stellte, machte H’Loi keinen Hehl aus dem Hass, den sie für die Kubaner empfand. Es spielte keine Rolle, ob sie schwarz waren, rosa oder kobaltblau. Sie waren böse. Sie erklärte Hong Lan, die beiden seien Teufel, worauf ihre Beziehung zu dem Mädchen merklich abkühlte.
Der Tod des Obersts kam so unerwartet, dass alle wie vor den Kopf geschlagen waren. Der Krieg war aus, und die Familie hatte gehofft, endlich ein glückliches, geregeltes Leben führen zu können. Als Soldatenfamilie unter den Viet Minh war sie nie lange an einem Ort geblieben. Ihr Traum war in greifbare Nähe gerückt, und plötzlich ließ der Oberst sich einfach erschießen. Nach der Beerdigung begann die Mutter mit der Planung ihrer Rückkehr nach Vietnam. Von der Armee bekam sie eine bescheidene Pension, genug für ein kleines Haus. Vielleicht würde Hong Lan sogar studieren können.
Doch dann, kurz vor ihrer Abreise, wurde das Mädchen entführt. Am helllichten Tag, von der Veranda. Die Mutter befand sich zum fraglichen Zeitpunkt außer Haus, um letzte Umzugsvorbereitungen zu treffen. H’Loi war im Garten und pflückte Obst für die Reise. Als sie ins Haus zurückkam, war Hong Lan verschwunden. Es gab Spuren eines Kampfes. Eine Kassette war aufgebrochen, das Haushaltsgeld gestohlen worden. H’Loi zufolge wussten alle, wer dahintersteckte. Eine großangelegte Suchaktion wurde gestartet. Das alte Regiment des Obersts machte mobil. Als man nach zwei Wochen noch immer keine Spur von dem Mädchen und den beiden Kubanern gefunden hatte, nahm man an, dass sie außer Landes gebracht worden war. Die Mutter kehrte heim nach Vietnam und ließ H’Loi allein zurück.
Siri hatte so viele Fragen zu dieser faszinierenden Geschichte, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte.
»Warum haben Sie die Mutter nicht begleitet?«, wollte er wissen.
»Weil sie es nicht wollte. Sie machte mir Vorwürfe, weil ich ihre Tochter an diesem Tag unbeaufsichtigt gelassen hatte. Sie verschwand mit ihrem gesamten Hab und Gut und dem Lohn, den ich noch zu bekommen hatte. Ich stand von einem Tag auf den anderen mit leeren Händen da. Die Bezirkskommandantur hatte Mitleid mit mir und war so freundlich, mir einen Mann zu besorgen.«
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