Der Inspektor schüttelte den Kopf. «Keinen Laut.»
Er sah Poirot bewundernd an und nickte.
«Dann nehmen Sie also an, Mr Poirot?», fragte Alfred.
Die Hand, mit welcher er sich über das Gesicht fuhr, zitterte ein wenig. Seine milden braunen Augen glühten in einem ganz neuen, ungewohnten Fieber, und er stotterte leicht, wenn er sprach. Lydia, die stumm neben ihm stand, sah ihn besorgt an.
«Sie wissen nicht… Sie k-können nicht w-wissen – was mir das b-bedeutet! Der Mörder meines V-Vaters m-muss gefunden werden!»
«Wenn Sie sich wirklich, wie Sie mir sagen, die Sache lange und gründlich überlegt haben – ja, dann nehme ich an. Aber wohlverstanden, Mr Lee: Dann gibt es kein Zurück mehr. Ich bin kein Spürhund, den man auf eine Fährte setzt und plötzlich zurückpfeift, wenn man die Spur lieber nicht weiterverfolgen möchte.»
«Das ist selbstverständlich! Es ist alles b-bereit. Ihr Z-Zimmer – alles. Bleiben Sie, solange Sie wollen.»
«Es wird nicht allzu lange sein», sagte Poirot ernst.
«Wie? Was sagen Sie da?»
«Ich sage, es werde nicht lange dauern. Es ist ein so beschränkter Kreis, dass es unmöglich lange dauern kann, bis die Wahrheit zutage tritt.» Er sah Alfred an. «Ich glaube sogar, dass das Ende der Untersuchungen naht.»
Alfred starrte ihn an. «Unmöglich!», keuchte er.
«Doch, doch. Die Tatsachen weisen alle mehr oder weniger deutlich in eine bestimmte Richtung. Es brauchen nur noch einige Nebensächlichkeiten geklärt zu werden, und dann wird die Wahrheit klar vor uns liegen.»
Alfred lachte ungläubig.
«Heißt das – dass Sie sie bereits kennen?»
«Ja, Mr Lee», lächelte Poirot zurück, «ich kenne sie.»
Alfred wandte sich plötzlich ab. «Mein Vater… mein Vater», stieß er unterdrückt hervor.
«Ich möchte Sie noch um zwei Dinge bitten», sagte Poirot fast hart. «Erstens möchte ich, dass Sie das Porträt Ihres Vaters, das ihn als jungen Mann darstellt, in dem Schlafzimmer aufhängen lassen, das Sie mir zur Verfügung stellen wollen.»
Alfred und Lydia sahen ihn starr an.
«Das Bild meines Vaters?», stammelte Alfred. «Weshalb?»
Mit einer Handbewegung erklärte Poirot:
«Es wird mich – wie soll ich sagen? – inspirieren.»
«Wollen Sie vielleicht dieses Verbrechen mit Hellseherei lösen, Monsieur Poirot?», fragte Lydia höhnisch.
«Nennen wir es so, Madame: Ich will nicht nur die physischen Augen dabei benützen, sondern auch die geistigen.»
Sie zuckte die Achseln.
«Ferner möchte ich die wahren Umstände kennen lernen, unter welchen der Gatte Ihrer Schwester, Juan Estravados, starb.»
«Ist das notwendig?», fragte Lydia.
Doch Alfred beantwortete die Frage bereits.
«Juan Estravados tötete im Verlauf eines Streits um eine andere Frau einen Mann in einem Kaffeehaus.»
«Wie brachte er ihn um?»
Alfred sah Lydia bittend an.
«Er erstach ihn», fuhr Lydia gleichmütig fort. «Juan Estravados wurde nicht zum Tod verurteilt, weil er zu seiner Tat herausgefordert worden war. Er bekam eine Zuchthausstrafe und starb im Gefängnis.»
«Weiß seine Tochter davon?»
«Ich glaube nicht.»
«Nein, Jennifer sagte ihr nichts davon», murmelte Alfred.
Plötzlich fuhr Lydia auf. «Sie glauben doch nicht etwa, dass Pilar… Das wäre Unsinn!»
Poirot überhörte diesen Einwurf.
«Nun, Mr Lee, würden Sie mir vielleicht auch nähere Einzelheiten über Ihren Bruder Harry anvertrauen?»
«Was wollen Sie wissen?»
«Soviel ich begriffen habe, wird er irgendwie als Schandfleck der Familie angesehen. Warum?»
Alfreds Gesicht bekam wieder etwas Farbe.
«Er stahl einmal eine große Summe Geld, indem er den Namen meines Vaters auf einem Scheck fälschte. Natürlich hat mein Vater ihn nicht dafür zur Rechenschaft gezogen. Harry war immer ein Tunichtgut. Überall auf der ganzen Welt ist er in Schwierigkeiten geraten. Immer musste er telegrafieren, man solle ihm Geld schicken, weil er in einer Klemme steckte. Er hat auch einige Gefängnisstrafen abgesessen.»
«Das weißt du nicht bestimmt, Alfred», wies Lydia ihn zurecht.
Aber er fegte ihren Einwand mit einer Handbewegung beiseite. «Harry ist ein Lump! War immer einer!»
«Sie scheinen Ihren Bruder nicht zu mögen», stellte Poirot fest.
«Er hat meinen Vater ausgenützt – auf schändliche Weise!»
Lydia seufzte kurz und ungeduldig auf. Poirot hörte es und warf ihr einen scharfen Blick zu.
«Wenn doch wenigstens diese Diamanten gefunden werden könnten», sagte sie. «Mich dünkt, dort liegt die Lösung des ganzen Falls.»
«Sie sind gefunden worden, Madame. Und zwar in Ihrem kleinen Garten, der das Tote Meer darstellt.»
«Sie sind… In meinem Garten? Wie seltsam!»
«Nicht wahr, Madame?»
«Das ging ja schmerzloser, als ich fürchtete», sagte Alfred Lee mit einem Seufzer. Sie waren alle soeben von der gerichtlichen Totenschau zurückgekommen. Mr Charlton, ein altväterischer Rechtsanwalt mit forschenden blauen Augen, war mit ihnen dort gewesen und hatte sie nun nach Gorston Hall zurückbegleitet.
«Ich sagte Ihnen ja, dass dieses Prozedere eine reine Formsache sei – reine Formsache. Die Vertagung war vorauszusehen, weil die Polizei vorerst noch weitere Untersuchungen anstellen muss.»
George Lee war gereizt.
«Ekelhaft ist das alles, einfach ekelhaft. Eine scheußliche Situation, in die wir da geraten sind. Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass das Verbrechen von einem Irrsinnigen begangen wurde, der sich irgendwie Zugang zum Haus verschaffen konnte. Dieser Sugden ist ja halsstarrig wie ein Maulesel! Colonel Johnson müsste Scotland Yard beiziehen. Die Ortspolizei ist doch hilflos. Zu dickköpfig! Was ist zum Beispiel mit diesem Horbury los? Ich höre, dass seine Vergangenheit äußerst dunkel sein soll; aber die Polizei unternimmt überhaupt nichts gegen ihn!»
«Ich – eh – glaube, dass dieser Horbury ein einwandfreies Alibi für die fragliche Zeit hat, und deshalb – eh – muss die Polizei seinen Angaben glauben», versuchte Charlton zu beruhigen.
«Muss sie? Warum muss sie?», schäumte George. «Wenn ich die Polizei wäre, dann würde ein solches Alibi mit größter Vorsicht aufgenommen! Es ist doch klar, dass ein Verbrecher sich immer ein Alibi besorgt. Aber die Pflicht der Polizei ist es, dieses Alibi zu widerlegen – das heißt, wenn sie fähig ist!»
«Nun, nun», sagte Charlton, «ich glaube, dass es nicht unsere Sache ist, uns in das Vorgehen der Polizei einzumischen. Im Allgemeinen sind doch sehr tüchtige Leute dabei.»
George schüttelte ärgerlich den Kopf.
«Scotland Yard müsste verständigt werden! Inspektor Sugden mag ein gewissenhafter Beamter sein, aber eine Leuchte ist er bestimmt nicht.»
«Doch, Sugden ist ein sehr guter Polizist», widersprach ihm Charlton. «Er ist vielleicht keiner von der schnellen Sorte, aber er erreicht sein Ziel, glauben Sie mir.»
«Ich bin überzeugt, dass die Polizei alles in ihren Kräften Stehende tut», sagte Lydia. «Mr Charlton, möchten Sie einen Sherry?»
Mr Charlton lehnte höflich dankend ab. Er räusperte sich und schritt dann zur Testamentseröffnung. Er las dieses Dokument mit sichtlichem Behagen, wobei er bei den dunkleren Formulierungen etwas länger verweilte und die besonders raffinierten juristischen Passagen genießerisch auszukosten schien. Als er geendet hatte, nahm er seine Brille ab, putzte sie umständlich und sah sich dann in der Runde um. Harry Lee sprach als erster.
«Diese juristischen Formulierungen sind schwer zu verstehen. Können Sie uns das alles nicht klar und deutlich sagen?»
«Aber das vorliegende ist ein durchaus einfaches Testament.»
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