Möglicherweise hatte man sie einer Gehirnwäsche unterzogen. Vielleicht war dies die Zentrale eines verrückten Kults - das würde das fließende Kostüm, die dummen Glöckchen und diesen lächerlichen roten Punkt erklären. Ohne einen historischen Bezugspunkt für solch eine Transformation lehnte er sie prinzipiell ab, wie ihm jedwede Veränderung widerstrebte, die ohne seine Zustimmung vonstatten ging.
Ihm entging nicht, daß sie allen Gegenständen auf dem Tablett eine übertriebene Aufmerksamkeit schenkte. Mit extremer Präzision und widernatürlich konzentriert neigte sie zwischen den einzelnen Bewegungen den Kopf nahezu ehrerbietig. Wie bei allen Ritualen wurde auch hier der Beobachter bewußt ausgeschlossen. Ihre Ernsthaftigkeit ging Guy langsam auf die Nerven. Er verspürte den heftigen Drang, sie zu irgendeiner Reaktion zu nötigen, wohlwissend, wie unklug ein solcher Schritt wäre. Auf die Idee, daß seine Gesellschaft ihr unerträglich war, kam er nicht.
»Ein wunderschönes Haus, Syl... ähm... Suzz... ähm...«
»Ja. Ich bin sehr glücklich hier.«
»Das freut mich - oh! Es freut mich, daß du glücklich bist, Sylvie.« Ihm fiel auf, daß sie angesichts seiner aufdringlichen Überschwenglichkeit zusammenschrumpfte. Auf seine Stimme achtend, fügte er hinzu: »Wie kommt das? Was bedeutet dieser Ort für dich?«
»Ich habe hier meinen Frieden gefunden.« Eine grazile Bewegung der Hand schloß das alte Regal und die Küchenschränke. »Und Menschen, denen wirklich etwas an mir liegt.«
Ohne groß zu murren, fing Guy den Schlag unter die Gürtellinie ab.
Er konnte sehen, daß sie es ernst meinte. Das wußte er nun. Oder dachte es, was auf das gleiche hinauslief. Daher rührten zweifellos ihr ausdrucksloses Gesicht, ihre fließenden Bewegungen, ihre vagen Verbeugungen. Demut war Guy unerträglich. Wenn es nach ihm ging, konnte man sich Bescheidenheit in den Hintern schieben. Wieder wandte sie sich mit ihrer geschlechtslosen sanften Stimme an ihn: »... und als der Meister vorschlug, daß du eingeladen werden sollst, haben wir alle über diesen Vorschlag diskutiert und sind übereingekommen, daß mein Geburtstag der passende Zeitpunkt ist.«
Der zweite, so ganz beiläufig ausgeteilte Schlag unter die Gürtellinie setzte Guy wesentlich stärker zu als der vorige. Um ehrlich zu sein, er hing in den Seilen. Sein Besuch war also nicht ihre Idee gewesen. Der Vorschlag stammte von einer Horde Irrer, die alles miteinander teilten, die permanent füreinander da waren, Frieden predigten und die Venus beobachteten. Seine Anwesenheit an diesem Ort wurde von ihnen nur geduldet. Der Gedanke verletzte seinen Stolz. Und machte ihn eifersüchtig. Ganz spontan wollte er unhöflich sein. Ihr weh tun, weil sie ihm diesen Schlag versetzt hatte.
»Ich denke, das wird sich legen.«
»Was?«
»All dieser Frieden und so.«
»Nein, das wird sich nicht legen.«
»Du bist noch sehr jung, Sylvie.«
»Ich bin älter, als ich aussehe.«
Die Worte waren voller Bitterkeit. Er schaute zu ihr hinüber, und die Kluft schloß sich. Ehrlichkeit erblühte, und plötzlich machten sich in der Küche jämmerliche Reminiszenzen der Vergangenheit breit. Verpaßte Chancen, Gesten, die nie ausgeführt, Lieder, die nie gesungen worden waren. Guy ging auf sie zu, und sie wich zurück.
»Es tut mir so leid, Sylvie. Bitte... glaub mir ...es tut mir so leid.«
»Ach, warum bist du nur gekommen?« Sie verlor die Fassung. In ihren Augen funkelten auf einmal Tränen.
»Ich habe einen Brief erhalten -«
»Ich meine, wieso bist du jetzt gekommen? Wieso konntest du nicht einfach wie verabredet um halb acht kommen?«
»Das habe ich dir schon vorhin erklärt. Ich wollte -«
»Du wolltest, du wolltest. Kannst du nicht einmal in deinem Leben tun, was jemand anderer will? Ist das dir ganz und gar unmöglich?« Sie brach ab, drehte sich um und legte die Hände aufs Gesicht.
Bedrückendes Schweigen machte sich breit. Guy, tief betroffen von diesem abrupten und erschreckenden Umschwung, von ihrer Ablehnung, senkte den Kopf. Er mußte erkennen, daß es seine Schuld war. War es nicht unwichtig, daß diese Gelegenheit, seine Tochter zu treffen, von Fremden initiiert worden war? Man hatte ihm eine Chance gewährt - allein das zählte. Und er hatte in dieser ihm fremden Umgebung den Mantel der Feindschaft übergestreift und selbstherrlich die Zügel in die Hände genommen. Ich habe alles versaut, dachte er und verdrängte die Erkenntnis auf der Stelle. Ein falscher Schritt war noch keine Katastrophe.
Sein Blick bohrte sich in Sylvies Rücken. Der dicke, mit Blumen verzierte Zopf war nach vorn gefallen und kaschierte nun nicht mehr jene zarte Einbuchtung unterhalb ihres Halses. Wenigstens das hatte sich nicht geändert. Die Stelle wirkte so zart und zerbrechlich wie eh und je. Er hatte mal gehört, daß sie die Exekutionslinie genannt wurde, und war erschauert, als wäre das sein Metier. Stotternd begann er zu sprechen.
»Ich fürchte, ich habe falsch gehandelt, aber nur, weil ich dich so gern sehen wollte. Und jetzt, wo ich dich sehen kann, scheine ich nicht in der Lage zu sein... « Das Ausmaß seiner Hilflosigkeit, seines reuigen Verlangens schnürte ihm die Kehle zu.
Suhamis bis dahin gerader Rücken krümmte sich. Schon schämte sie sich für ihren unkontrollierten Gefühlsausbruch. So durfte sie sich nicht verhalten. Welchen Sinn hatte die Meditation, das Ringen darum, im Licht zu wandeln und allen empfindungsfähigen Wesen ihre Liebe darzubieten, wenn sie nicht einmal in der Lage war, einem einzelnen Menschen Höflichkeit entgegenzubringen? Ihr Vater war ein verabscheuungswürdiger Mann, doch hassen durfte sie ihn nicht. Er hatte ihr unermeßlichen Schmerz zugefügt, aber sie durfte keine Rache üben. Der Meister hatte ihr in dieser Sache mit Rat und Tat zur Seite gestanden, und sie wußte, daß er recht hatte. Bosheit zu nähren hieß nur, sich selbst zu schaden. Ihr Vater konnte einem leid tun. Wer auf dieser Welt liebte ihn schon? Doch ich - Suhami atmete tief durch und beruhigte sich - habe Liebe kennengelernt. Vom Meister, von meinen Freunden hier, von Christopher. Man hat mich genährt und sich um mich gesorgt. Sollte ich dafür nicht auch Großzügigkeit walten lassen? Sie drehte sich um und blickte ihm ins Gesicht. Noch immer wirkte er optimistisch, aber längst nicht mehr so forsch. Sein Kinn ruhte auf seiner Brust.
»Mir tut es auch leid. Du darfst nicht denken...« Sie suchte nach etwas, das der Wahrheit entsprach. »Jeder ist fasziniert von der Idee, dich kennenzulernen.«
Guy antwortete blitzschnell: »Und ich freue mich darauf, die Craigies kennenzulernen.«
»Die...?« Suhami war verwirrt und lachte dann, als habe er etwas wirklich Witziges gesagt. »Oh... so ist es nicht.« Sie hob den Zopf und ließ ihn wieder auf ihren Rücken fallen. »So ist es überhaupt nicht.« Dann hob sie das Tablett auf. »Ich muß das hier dem Meister bringen.«
»Ist der Tee inzwischen nicht kalt?«
»Nein, ich denke nicht.«
Guy fiel es wie Schuppen von den Augen, daß sie sich nur wenige Minuten in der Küche aufgehalten hatten. Kaum zehn Minuten waren verstrichen, seit sie sich in der Halle begegnet waren. Zehn Minuten, in denen er Achterbahn gefahren war während einer Begegnung, die ihn seit Tagen unablässig beschäftigte.
Auf der Treppe drehte sie sich um und zeigte auf die verglaste Tür neben den Gummistiefeln. »Du kannst da rausgehen. Vielleicht hast du ja Lust, dir den Garten anzusehen? Oder die Bibliothek?«
»Ich denke, ich werde gehen, meinen Koffer ins Hotel bringen und eine Dusche nehmen. Ich habe ein Zimmer reserviert.«
»In einem Hotel?«
»Ich habe beschlossen, dort zu übernachten. Dachte, ich würde hier vielleicht stören. Ich möchte keine Umstände machen.«
Suhami fixierte ihn einen Moment lang und lächelte dann. Die Vorstellung, daß ihr Vater nicht stören wollte, amüsierte sie, aber ihr Vater legte ihre Reaktion als einzigartig und als Beweis ihrer Zuneigung aus. Seine von Zorn und Kummer verdrängte Selbstsicherheit kehrte zurück. Er konnte es schaffen. Er mußte sich nur an ihre Spielregeln halten. Er würde allem zustimmen, jeden mögen und sich - falls nötig - verstellen. Während er beobachtete, wie seine Tochter sich entfernte, empfand er große Befriedigung, als habe er diese unmögliche Leistung schon vollbracht.
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