Nach dieser Bemerkung verfielen alle in Schweigen. May, unter dem Schutz der Engel, schaute immer noch etwas perplex drein. Hinter dem Rücken der anderen verdrehte Trixie die Augen. Ken schien von dem Geheimnis fasziniert zu sein, und Heather vermutete, er könne es nicht erwarten, in dieser Angelegenheit Hilarions Meinung einzuholen. Tim, das Unerklärliche spürend, machte sich noch kleiner als sonst.
Die Stille breitete sich immer mehr aus, bis sich alle, einer nach dem anderen, dem Meister zuwandten. Der Raum schien vor verheißungsvoller Erwartung zu bersten. Er würde diese Disharmonien erklären können, besagten ihre vertrauensvollen Mienen. Der Meister lächelte sein obligates Lächeln. Beugte sich kurz nach unten, um Tims goldenen Schopf zu streicheln, und meldete sich schließlich zu Wort.
»Viele Dinge agieren im Vakuum des Energiefeldes. Das niedrige Stratum dynamischer Kraft ist weit davon entfernt, stabil zu sein. Subatomare Partikel sind konstant in Bewegung. Vergeßt niemals - es gibt kein ruhendes Elektron.«
Das war es also. Das fallende Objekt war nichts anderes als die Verkörperung lebendiger Materie. Die Anwesenden begannen zu nicken und zu lächeln oder den Kopf zu schütteln angesichts ihrer geistigen Trägheit. Den Handrücken auf die Stirn legend, bekundete Ken, was für ein Idiot er doch sei. Niemand widersprach ihm.
Kurz danach forderte der Meister sie auf, May ruhen zu lassen. »Und bedankt euch bei ihrem Schutzengel, wie es sich gebührt.« Damit entfernte er sich. Tim folgte ihm und trat beinahe auf den Saum seines blauen Gewandes, vor lauter Angst, zurückgelassen zu werden. An der Tür drehte sich der Meister um. »Ich mache mir große Sorgen wegen deiner für heute abend angesetzten Rückführung. Diese Reisen können überaus anstrengend sein. Wäre es dir lieber, sie auf einen anderen Abend zu verschieben?«
»Auf gar keinen Fall, Meister«, antwortete May stur. »Wir haben Neumond, und wir haben überaus verheißungsvolle Nachrichten von Hilarion erhalten. Wie würde ich mich fühlen, wenn mir Astarte eine Manifestation zuteil werden ließe und ich all diese extrem dynamische Energie nicht nutzte? Und außerdem«, sagte sie, setzte sich auf, trank einen kleinen Schluck Oxymol und strahlte die anderen an, »bin ich schon wieder ganz die alte.«
Es war halb fünf. Beim Abendessen waren die Craigies sicherlich anwesend. Und hinterher gab es vielleicht keine Möglichkeit mehr, Sylvie allein zu sprechen. So kam es, daß Guy verfrüht in Compton Dando eintraf. Die leise Befürchtung, daß dies eventuell nicht gern gesehen war, hatte keine Chance gehabt, neben dem alles umfassenden Deckmantel freudiger Aufregung zu bestehen.
Auf dem Weg dorthin war es ihm gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, daß der Brief in Wirklichkeit - ihm war es sehr wohl gegeben, zwischen den Zeilen zu lesen - von Sylvies Entscheidung kündete, ihm zu verzeihen. Daß sie ihn nicht persönlich über ihren Sinneswandel in Kenntnis setzen konnte, dafür brachte Guy großes Verständnis auf. Sie war tief verletzt worden und keineswegs bereit, die Rolle einer Bittstellerin einzunehmen. Und dies wünschte er auch nicht. Aber daran, daß eine Einladung ausgesprochen worden war, und zwar nicht nur mit ihrer Erlaubnis, sondern auf ihren Wunsch hin, hatte er nun nicht mehr den geringsten Zweifel. Die Jahre seiner einsamen Trauer neigten sich dem Ende zu. Mit einem Blumenstrauß und einer Karte mit den schlichten Worten »In Liebe« neben dem Haupteingang von Manor House stehend, wurde er von Glücksgefühlen übermannt. Er war darin gebadet, wie in Schweiß.
Er schaute sich nach Anzeichen von Leben um. Im Schloß steckte ein großer gotischer Schlüssel, und an einem vertikal angebrachten Eisenstab war eine rostige Klingel befestigt, an der erzog. Die Klingel tönte recht laut, aber niemand kam. Die Blumen umständlich haltend, wartete er eine Weile. Auf der Veranda standen zwei an die Wand gelehnte Holzstühle, abgenutzt und glatt wie jene, die man oft vor alten Dorfkirchen fand. Guy legte den Strauß auf einem der Stühle ab und trat einen Schritt zurück, um das bemerkenswert imposante Haus besser betrachten zu können.
Daß sie gar nicht dasein könnte, war Guy nicht in den Sinn gekommen. Sollte er erst in sein Hotel einchecken und später wiederkommen? Gina hatte ihm ein Zimmer im Chartwell Grange, dem einzig halbwegs annehmbaren Hotel weit und breit, reserviert. Guy hatte beschlossen, nach dem Abendessen, egal welchen Ausgang es nahm, nicht heimzufahren. Er wollte allein sein und das Wiedersehen mit seiner Tochter allein verdauen, genießen, im Geist noch mal durchleben und feiern. Und auch wenn Felicity nichts von der Einladung ahnte und - bis er zurückkehrte - sich mit Hilfe von Alkohol und Tabletten unter aller Garantie ins seelische Niemandsland katapultiert hatte, war Guy der Gedanke unerträglich, sich kurz nach dem Abschied von seiner Tochter ihrer Gegenwart aussetzen zu müssen.
Noch nicht gewillt aufzugeben, marschierte er am Haus entlang. Was für ein Durcheinander hier herrschte. Blumen, deren Blüten nicht aufgerichtet waren, sondern im Staub lagen. Ein immens hohes, vielfach verstrebtes blaues Etwas, das in sich zusammengefallen war und auf dem Kies verstreut lag. Er gelangte zu einer räudigen Eibenhecke, die parallel zur einer Mauer verlief. An einer Stelle waren die Äste für einen Durchgang, durch den Guy nun trat, gekappt worden.
Dahinter lag ein weitläufiges Rasengrundstück, auf dem Stiefmütterchen und Klee sprossen, an denen sich eine korpulente Ziege labte. In der Mitte stand eine große Zeder, die so alt wie das Haus sein mußte. Zu seinen Füßen lag ein rechtwinkliger Teich mit herumflitzenden Fischen. Manche waren wie Tiger gestreift, andere waren kleiner und hatten dünne Rücken und durchsichtige schneckenartige Hörner. Am Ende der Rasenfläche erhoben sich mehrere Bambuswigwams. Dort mußte es - das verriet ihm die Uneinheitlichkeit der Pflanzen - auch einen Gemüsegarten geben. Und endlich ein Anzeichen von menschlichem Leben. Jemand harkte Erde. Vielleicht Ian Craigie?
Kaum hatte Guy sich richtig in Bewegung gesetzt, da stellte der Mann sein Tun ein, warf den Kopf nach hinten und begann zu deklamieren. Die Verse waren schlicht, wurden laut vorgetragen und mit befremdlichen Gesten untermalt. Der Mann warf die Arme hin und her und hielt das Gesicht in die Sonne. Leicht verstört zog sich Guy zurück.
Wieder auf der Veranda, beschloß er, noch mal die Klingel zu betätigen, kam dann aber wieder davon ab und drehte, ohne groß nachzudenken, an dem aus einem Eisenring bestehenden Türgriff. Die Tür ging auf, und er betrat das Haus.
Er stand in einer großen Halle mit gewölbter Decke, die mit farbenprächtig bemalten Schlußsteinen akzentuiert war. Eine beeindruckende Treppe mit aufwendig geschnitzten Treppen- und Geländerpfosten führte zu einer dreiflügeligen Musikantengalerie hoch. Der riesige Raum war nur spärlich mit äußerst schlichten Möbelstücken ausstaffiert: zwei stattliche Holztruhen, von denen eine einen kaputten Deckel hatte, zwei unfachmännisch gepolsterte Stühle, ein runder, nichtssagender Tisch, der keiner Stilperiode zuzuordnen war, und ein großer freistehender Schrank. Der einzig ansehnliche Gegenstand war ein großer, knapp zwei Meter hoher Steinbuddha auf einem Sockel. Der Kopf war mit kleinen, an Pickel erinnernde Locken verziert. Auf dem Sockel stand eine Glasschale mit Lupinen, und jemand hatte ein paar Früchte ausgelegt.
Die Luft roch unangenehm. Nach Bohnerwachs, ungesundem Essen und feuchter Wäsche. Der Geruch einer Institution. Er mußte es wissen. Schließlich hatte er lange genug dort gelebt. Und über allem schwebte ein ziemlich aufdringliches Aroma, das - wie Guy fürchtete - Weihrauch sein mußte.
Auf dem Tisch standen zwei Holzschalen, in denen jeweils eine schön beschriftete Karte lag. »Fühlst du dich schuldig?« und »Liebesopfer« stand darauf geschrieben. In der Schale für die Schuldgefühle lagen fünf Pence. Außerdem gab es eine Menge von Hand bedruckter Flugblätter, die von überflüssigen Hervorhebungen und eigenwillig plazierten Ausrufezeichen strotzten. Guy hob The Romance of the Enema von einem Kenneth Beavers hoch, der sich Clairaudient und Intuitiver Diagnosesteller titulierte. An der Tür, durch die er gerade eingetreten war, hing ein grüngebeiztes Anschlagbrett. Guy ging hinüber, um einen Blick darauf zu werfen, und trat fest auf, damit seine Schritte lauter als nötig klangen.
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