Alexander Henschel entschuldigte sich bei der Lady: „Wir haben ein Problem, um das wir uns kümmern müssen. Wenn Sie bitte vorausgehen, zu der geöffneten Tür im Gebäude vor uns. Wir sind sofort wieder bei Ihnen.“
Als sie zum Bürogebäude kamen, das ebenfalls sehr verfallen wirkte, spürte der Butler Gefahr. Er war beunruhigt, weil er sie nicht exakt lokalisieren konnte. Die nächsten Sekunden brachten Klarheit. Ein schwerer Gegenstand hatte sich vom Fabrikdach gelöst, genau über ihm und Lady Marbely. Der Butler stürzte sich auf die Lady, umfasste ihren Oberkörper mit beiden Armen, riss sie zu Boden und wälzte sich mit ihr auf die Seite. Nur wenige Zentimeter von ihnen entfernt schlug eine Seilwinde aus massivem Eisen in den Hof ein. Der Butler löste sich von Lady Marbely, erhob sich und entdeckte, dass er bei dem Manöver seine Stahlmelone verloren hatte. Seine Kopfbedeckung lag platt gedrückt unter der Seilwinde. Der Butler klopfte Staub aus seiner Montur und half der Lady auf die Beine.
Lady Marbely schien vom Geschehen unberührt. „Das sollten wir öfter machen, James“, sagte sie mit einem verführerischen Augenaufschlag.
„Sehr wohl, Milady“, lautete die knappe Antwort ihres Butlers, die aber etwas gezwungen klang.
Auch Lady Marbely säuberte sich, unterstützt von ihrem Butler, dann schritt sie würdevoll voran, auf das Bürogebäude zu. Wenig später stießen die beiden Geschäftsführer zu ihnen, die offenbar von dem Geschehen auf dem Hof nichts mitbekommen hatten.
Henschel lächelte wie immer, zeigte sich aber zerknirscht. „Die Daten lassen sich im Moment nicht abrufen. Der Computer streikt. Wir werden Ihnen das Material umgehend zukommen lassen. Sie logieren doch noch im Park Hotel, Milady?“
„Ich möchte einen Blick in die Produktionshalle werfen“, forderte Lady Marbely mit fester Stimme.
„Da tut sich nicht viel, im Moment. Wir haben den Ausstoß zurückgefahren, seitdem unser Chef auf so tragische Weise von uns gegangen ist. Im Augenblick läuft hier alles quer.“
„Dennoch!“
„Dann folgen Sie mir bitte, Misses Marbely.“ Der Tonfall von Hans Obermann war mürrisch. Als er den Hof betrat, betrachtete er erstaunt den Einschlag der Seilwinde im Boden und schüttelte ungläubig den Kopf. Alexander Henschel blieb zurück.
„Das Ding kam von oben!“, beschwerte sich Lady Marbely.
Die beiden Geschäftsführer sahen den Butler und Milady nacheinander an und schienen nicht recht zu verstehen. Lady Marbely winkte ab. Gemeinsam betraten sie eine kleine Halle, in der drei Arbeiter zwei modern wirkende Maschinen überwachten.
„Die Laserschweißapparate und Stanzmaschinen“, erklärte Obermann knapp. „Sie bearbeiten alle Arten von Walzblech.“
„Und was wird aus diesem Blech gemacht?“
„Das Ausgangsmaterial wird geschnitten und auf vielfältige Weise bearbeitet.“
„Mit welchem Ergebnis?“ Die Lady ließ nicht locker.
„Wir erzeugen verschiedenste Elemente, die anderswo weiterverarbeitet werden.“
Mehr war dem Mann nicht zu entlocken, und Lady Marbely wirkte verärgert, als sie wieder im Maybach saß. „Ein mehr als unbefriedigender Besuch“, bemerkte sie. „Letztlich kann man nicht vor mir verbergen, was es mit dieser kläglichen Produktionsstätte auf sich hat.“
„Doch genau das will man wohl verhindern“, bemerkte der Butler.
„Durch die Anschläge auf mich?“
Der Butler nickte. „Inzwischen sind es vier.“
„Die Fabrik ist ein Potemkinsches Dorf“, stellte Lady Marbely fest.
„Eine Kulisse, wenn auch wenig beeindruckend.“
„Eine Geisterfabrik?“
„Und wenn wir all dies in Verbindung setzen zu der riesigen Erbschaft, die …“
„Dann stimmt etwas nicht. Sie haben recht, James. Was man uns hier zeigt, ist die Spitze des Eisbergs, von dem der Großteil im Verborgenen liegt.“
„Schlecht verborgen, denn die Täuschung ist offensichtlich“, sagte der Butler.
„Man hat wohl nicht damit gerechnet, dass Jakob seinen Besitz an mich weitergeben wird“, vermutete die Lady.
„Der Gedanke liegt nahe.“
„Henschel trug den schwarzen Ring nicht mehr“, bemerkte Lady Marbely.
„Das ist Ihnen aufgefallen, trotz des dramatischen Geschehens auf dem Hof?“
„Der Zwischenfall hat mich nicht erblinden lassen, James.“
„Alle Achtung, Milady. Ich denke, man darf Sie nicht unterschätzen.“
„Ich werde mich im Hotel etwas in Form bringen, und dann könnten wir die nächste Besichtigung vornehmen.“
„Die uns wohin führen soll?“
„Nach Königstein. Ich möchte das Schloss sehen, das mir Jakob vererbt hat.“
„Sehr wohl, Milady. Eine blendende Idee.“
„Habe ich mich eigentlich schon für die Rettung meines Lebens bedankt, James? Ohne Sie wäre ich platt gedrückt wie …“
„Wie meine Melone, Milady.“
„Oh, natürlich. Ich werde für Ersatz sorgen.“
„Kein Problem, Milady. Ein Anruf von mir genügt …“
Als Lady Marbely und ihr Butler Siegen in Richtung Königstein verließen, trug James bereits eine neue Stahlmelone.
*
Die Ende des 19. Jahrhunderts im neugotischen Stil erbaute Villa Andreae stand auf dem Gaisberg, von dem man die Stadt Königstein ideal überblicken konnte. Der Butler fand, dass das schlossartige Gebäude eine große Ähnlichkeit mit dem Frankfurter Rententurm hatte.
Das Tor zum Park stand offen. Der Butler fuhr bis zum Eingang des verlassen wirkenden Schlosses. Er bat Lady Marbely, im sicheren Wagen zu bleiben, während er auf den Eingang der Villa zuschritt und einen Knopf auf der Gegensprechanlage drückte.
„Wen darf ich melden?“, fragte die elektronisch verzerrte Stimme einer Frau.
„ Wem wollen Sie etwas melden?“, lautete die Gegenfrage des Butlers. „Die neue Besitzerin möchte sich einen Überblick verschaffen.“
Wenige Augenblicke später wurde die Eichentür geöffnet. Eine junge Frau mit kurzem blondem Haar, in einen grauen Hosenanzug gekleidet, begrüßte den Butler mit festem Händedruck. „Ich überwache den Putztrupp einer Reinigungsfirma. Das Haus war in den letzten Jahren wenig bewohnt.“
„Mit wem habe ich die Ehre?“
„Entschuldigen Sie! Marion Metz, ehemals Jakob Aufhausers Haushälterin. Ich versuche, eine geordnete Übergabe des Hauses an die Erbin vorzubereiten.“
„Trefflich, denn Lady Marbely möchte ihren Besitz gerne kennenlernen.“
„Natürlich. Ich führe Sie durch das Gebäude.“
Der Butler wollte zum Maybach zurück, doch die Lady kam ihm schon entgegen, begrüßte die junge Frau, die die Lady und ihren Butler danach sogleich durch die neunundzwanzig Zimmer des Fachwerkgebäudes führte. Die Villa befand sich in tadellosem Zustand. Die blitzblanken Fenster gewährten einen Ausblick auf die gegenüber liegende Burg Königstein.
Marion Metz bat die Lady und den Butler in die Bibliothek, wo sie sich anbot, für einen Imbiss zu sorgen. Bei feinem Tee und Sandwiches erfuhr Lady Marbely, dass die Villa ursprünglich Jakob Aufhausers Frau Mathilde, einer geborenen Andreae, gehört hatte.
„Ihr Großvater, Albert Andreae de Neufville, ein Frankfurter Bankier, ließ das Schloss als Sommersitz erbauen. Ich wurde erst angestellt, als eigentlich niemand mehr hier wohnte.“
„Was ist aus der Frau meines Cousins und aus seinem Vater geworden?“
„Über den Vater weiß ich leider wenig. Ich habe gehört, dass Herrn Aufhausers Frau und das Kind hier zu Tode gekommen sind. Eine schreckliche Geschichte. Der Junge starb im Teich, den sein Vater nach diesem Unfall zuschütten ließ.“
„Und Frau Aufhauser?“
„Sie stürzte sich kurz danach aus einem der Fenster in den Tod. So sagt man. Ab diesem Zeitpunkt wollte der Herr hier nicht mehr bleiben. Er verbrachte nur mehr wenige Wochenenden im Jahr in der Villa.“
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