„Und was hat das mit unserem Fall zu tun?“
„Sie ist Ruth Henschels Ausbilderin.“
„Das heißt, sie kann uns helfen, Ruth zu finden.“
„Ich denke schon. Ein Besuch kann jedenfalls nicht schaden.“
*
„Sie kann nur körperlich Gesunde therapieren“, stellte Lady Marbely fest, als sie an der Seite des Butlers die Treppe in das zweite Geschoss des Gründerzeithauses erklomm. „Lassen Sie sich doch Zeit, James! Ich bin ja völlig außer Atem.“
Die Tür zur Praxis von Doktor Helga Winter, lic. Phil. (Dipl.) Psychologin, Klinische Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin , wie das blank polierte Messingschild verhieß, stand einen Spaltbreit offen.
Ein angenehmer Duft von Bienenhonig empfing Lady Marbely und den Butler. Die hohen Räume und die edle Einrichtung des Warteraums vermittelten einen beabsichtigt seriösen Eindruck. Auf einem runden Tischchen, neben einigen Fachzeitschriften, stand eine Jugendstilvase mit grün knospenden Zweigen.
Die gepolsterte Tür zum Behandlungsraum öffnete sich, eine dunkelhaarige schlanke Frau, Mitte sechzig, kam der Lady und dem Butler entgegen. Freundlich schüttelte sie ihnen die Hände. „Schön, dass Sie zu mir gefunden haben.“
Der Butler bedankte sich bei der Psychotherapeutin, dass sie sich so kurzfristig Zeit für ein Gespräch nahm.
„Es ist mir ein Vergnügen, über Märchen zu sprechen. Auskünfte über Klienten oder Kollegen kann ich allerdings nicht geben.“ Die Frau steckte sofort klar den Rahmen des Gesprächs ab.
*
„Noch ist nichts verloren, wenn wir entschlossen handeln. Die finanzielle Grundlage befindet sich durch das Testament in Reichweite, allerdings müssen die nötigen Operationen ohne jede Verzögerung anlaufen. Dazu gehört die sofortige Beseitigung der englischen Frau und ihres Begleiters, sowie des Doktors!“
„Jawohl!“, rief der Anführer der Gruppe junger Männer. „Wir werden unser Ziel ohne Skrupel und umgehend ansteuern. Wo befindet sich der Einsatzort?“
„Löhrstraße 40, zweites Geschoss. Die Praxis von Doktor Helga Winter.“
Die Männer stürmten nach draußen und sprangen in einen weißen Kastenwagen.
„Wir sind lediglich therapeutische Laien, die sich für die Bedeutung von Märchen im Zusammenhang mit mehreren Mordfällen interessieren“, begann der Butler. „Lady Marbely und ich bilden ein Ermittlerteam.“
Die Therapeutin nickte bedächtig. „Welches Märchen wollen Sie mit mir analysieren?“
„Die Erzählung von Sleeping Beauty “, rief Lady Marbely fast freudig aus.
„Das Märchen von Dornröschen“, glaubte der Butler ergänzen zu müssen.
„Hm …“ Die Therapeutin griff nach einem alten Buch auf ihrem Schreibtisch. „Ich schlage vor, wir nehmen uns die Geschichte Schritt für Schritt vor.“ Sie klemmte sich eine Brille auf die Nase und studierte kurz das geöffnete Buch. „Die Prinzessin war ein von den Eltern herbeigesehntes Einzelkind, das bis zum fünfzehnten Lebensjahr verwöhnt und verhätschelt wurde. Dann geschah etwas, das das Leben der jungen Frau dramatisch veränderte. Die blühende und duftende Rose wurde zum tödlichen Dornbusch, und zwar durch einen Stich. Sie stach sich an einer Spindel und fiel in einen todesähnlichen Schlaf, hundert Jahre, also drei bis vier Generationen lang.“
„Und mit ihr erstarrte die gesamte menschliche Umgebung“, fügte Lady Marbely hinzu.
„Der Todesschlaf befiel auch Tiere und Gegenstände, sowie die Natur im Umkreis des Schlosses. Doch um das Schloss herum tat sich Erstaunliches. Eine Rosenhecke breitete sich aus, die ein Eindringen in das Gebäude, zur schlafenden Frau, verhinderte. Viele Prinzen versuchten diese Barriere zu durchdringen.“ Frau Doktor zitierte: „Es war ihnen aber nicht möglich, denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen und starben eines jämmerlichen Todes.“ Die Ärztin blickte auf. „Bis der Richtige kommt und die Prinzessin sowie den gesamten Hofstaat erweckt.“
„Mit einem Kuss“, sagte Lady Marbely schwärmerisch.
„Ein fürwahr merkwürdiges Geschehen“, betonte die Therapeutin. „Dornröschen als lebende Tote, die durch eine Art Therapeuten geheilt wird.“
„Nachdem viele andere an ihr gescheitert waren“, ergänzte der Butler.
„Ich glaube“, erklärte Dr. Winter, „dass in diesem Todesschlaf der Kern der Geschichte liegt. Ein Kind, das durch ein dramatisches Geschehen seine Seele verliert, als es gerade zur Frau wird. Ein von diesem Moment an unmenschlich gewordenes Wesen, das einerseits verführerisch wirkt, andererseits allen, die sich ihr nähern, den Tod bringt.“
„Die Spinne im Netz“, warf Lady Marbely ein.
„Die Prinzessin im Dornendickicht“, ergänzte die Therapeutin. „Die Frage ist nun, was die Verwandlung eines harmlosen Mädchens in diese seelisch kranke Frau bewirkt, was mit dem Stich gemeint sein kann, der diesen Menschen zerstört.“
„Im Märchen ist es der Fluch einer weisen Frau“, meinte der Butler. „Es kann sich um ein dramatisches Geschehen psychischer Natur handeln, das einen jungen Menschen verändert, oder ein Angriff auf seinen Körper. Wenn er überlebt, wenn er aus irgendeinem Grund aus dem Koma erwacht, ist er ein völlig anderer.“
Milady hatte feuerrote Wangen bekommen. „Im Falle von Dornröschen ein gefährliches, blutrünstiges Wesen, dem nur ein einziger Prinz …“
„Therapeut“, meldete sich Dr. Winter zu Wort.
„… gewachsen ist“, vollendete der Butler den Satz.
„Und das nur im Märchen“, betonte die Therapeutin.
„Sehen Sie, Frau Doktor“, sagte der Butler. „Und ebendieser Umstand gibt Anlass zur Sorge. Dornröschen wird seinen Weg weitergehen, gnadenlos. Und auch vor seiner Therapeutin nicht haltmachen.“ Der Butler hatte sich bei diesen Worten erhoben, war zum Fenster gegangen und blickte auf die Straße, wo genau in diesem Moment acht Männer in braunen Uniformen aus einem weißen Kastenwagen sprangen. „Wir müssen weg von hier! Folgen Sie mir!“
„Was ist?“ Die Therapeutin zögerte. „Sollte Gefahr durch das Treppenhaus kommen, so können wir nicht fliehen. Es gibt keinen anderen Weg.“
„Doch, den gibt es“, widersprach ihr der Butler. „Ich habe mir erlaubt, vorab den Bauplan dieses Gebäudes zu studieren. Rasch, mir nach! Über den Dachboden zum nächsten Treppenhaus. Schnell, aber lautlos.“
Als sie die Stiege zum Speicher hocheilten, hörten sie schwere Tritte im Treppenhaus. Es folgte das Geräusch von splitterndem Holz. Die Tür zur Praxis!
Der Butler verständigte die Männer der Antiterrorgruppe. „Wir warten hier ab, bis die Aktion abgeschlossen ist. Alles andere wäre zu gefährlich.“
Die beiden Frauen nahmen leicht verstört auf den Steinstufen Platz.
„Dornröschens letzter und verzweifelter Versuch, an Geld und Macht zu kommen“, bemerkte der Butler.
„Eine traurige Entwicklung“, stöhnte die Therapeutin. „Ich glaubte lange Zeit daran, dass eine Behandlung erfolgreich sein könnte.“
„Es gibt Prinzessinnen, denen kein Prinz helfen kann“, warf der Butler ein.
„Ich denke, dass ein Mann, ein männlicher Therapeut, der ihr gewachsen wäre, vielleicht Erfolg gehabt hätte. Ich hätte rechtzeitig abbrechen müssen.“
„Sie sprechen in Rätseln! Sie beide!“, unterbrach Lady Marbely empört das Gespräch zwischen der Psychotherapeutin und dem Butler. „Wer versteckt sich hinter Dornröschen?“
„Die Mörderbande im Nebeneingang wurde von einer Frau geschickt“, erklärte der Butler. „Einer Frau, in deren jungen Jahren etwas Dramatisches passierte. Etwas, das sie zu einem machthungrigen, mordbereiten Monster werden ließ.“
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