*
Lady Marbely und der Butler warteten vergeblich auf das Lächeln in Henschels Gesicht. Sein Grinsen war endgültig zur Grimasse geworden. Die sonst so strahlend blauen Augen blieben auf den Steinboden der Kerkerzelle geheftet.
Der Butler las den Beginn der Rede vor, die der sogenannte Führer vor den Männern des Bundes 88 hatte halten wollen: „Volksgenossen! Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Goldenen Zeitalter, der Fortsetzung des Tausendjährigen Reiches, dessen ruhmreiches Wirken durch hinterhältige Feinde einige Zeit unterbrochen worden ist. Mit dem heutigen Tag jedoch kann ich als euer Führer ein Wiederaufblühen der alten Größe verkünden, einen triumphalen Neubeginn, der alles in den Schatten stellen wird, was wir bisher erlebten. Wir haben die finanzielle Grundlage, unsere Pläne in die Tat umzusetzen, um diesem geschundenen Land die Würde zurückzugeben, die es verdient …“ Der Butler hielt in seiner bewusst zurückhaltenden Lesung inne, dann fragte er den auf der Holzpritsche Liegenden: „Und wer hat das für Sie geschrieben?“
Alexander Henschel schwieg.
„Wir wissen, Herr Henschel, dass es einen Mastermind im Hintergrund gibt und Sie nur Befehle ausführten. Ein Umstand, der vor Gericht zu Ihren Gunsten ausgelegt werden kann. Jedoch nur, wenn Sie uns verraten, wer die Drahtzieher sind.“
„Ich bin der Führer “, stöhnte Henschel mit belegter Stimme. „Ich übernehme die Verantwortung für alle Worte und Taten, die in Zusammenhang mit unserer großen Idee stehen, die übrigens auch durch Ihr bedauerliches Eingreifen nicht zum Stillstand kommen wird.“
„Da bin ich anderer Meinung“, widersprach der Butler. „Die finanzielle Unterstützung Ihrer Gruppierung, von der hier die Rede ist, wird es nicht geben. Lady Marbely wird weiterleben, und all ihr Besitz und der des verstorbenen Jakob Aufhauser bleibt in ihrer Hand.“
„Mein Testament“, schaltete sich die Lady in das Gespräch ein, „zugunsten von Stefan Obermann und Ihrer Tochter Ruth ist hinfällig. Erstens, weil ich lebe, und zweitens, weil Sie nicht auf die Idee kommen sollen, auch noch die beiden zu töten, nur um an das Geld heranzukommen.“
„Ich hatte nie vor, meine Tochter zu töten“, protestierte Henschel heftig.
Im selben Moment meldete sich das iPhone des Butlers, der sofort für einen Augenblick die Zelle verließ. Nach Beendigung des Gesprächs kam er zurück und sagte: „Wenn Sie uns sonst nichts mitzuteilen haben, werden Sie nach Frankfurt gebracht. Oder gibt es noch etwas, das Sie loswerden möchten?“
„Nein. Meiner Tochter wäre nichts geschehen, doch alles andere musste leider sein, um an unser Ziel zu gelangen.“
„Der Mann hat kein Gewissen.“ Der Butler kniff seine Lippen zusammen. „Für sein Ziel ist er über Leichen gegangen.“
Milady nickte seufzend.
Der Butler führte die Lady zu seinem Wagen. „Ich schlage vor, wir statten dem jungen Obermann einen Besuch ab. Auch er wurde in die Justizvollzugsanstalt Frankfurt I gebracht.“
„Als Mastermind hinter all den perfiden Plänen dieser Verrückten kann ich mir den scheuen jungen Mann wirklich nicht vorstellen“, gab die Lady zu bedenken. „Er war sehr reizend zu mir, im Blockhaus. Nicht umsonst änderte ich mein Testament zugunsten dieser jungen Leute. Auch wenn es nicht ganz ernst gemeint war.“
*
Der Verkehr wurde dichter, als sie sich ihrem Ziel, der Justizvollzugsanstalt I, im Frankfurter Stadtteil Preungesheim näherten. Der moderne, in unfreundlichem Grau gehaltene Gefängniskomplex bestand aus eng aneinandergebauten drei-bis fünfstöckigen Bauteilen, mit ein oder zwei Untergeschossen. Ein Justizbeamter erklärte stolz die Vorzüge der erst 2010 eröffneten Anstalt für Untersuchungshäftlinge. Sie ermöglichte humane Haftbedingungen und entsprach, seinen Worten zufolge, modernen Sicherheitsstandards. Dabei führte der Mann den Butler und seine Begleiterin in die Besuchsabteilung, die in Gebäude F untergebracht war. Sie nahmen an einer der fünfzehn Sitzgruppen, die aus schmucklosen Tischen und Sesseln bestanden, Platz und warteten auf Stefan Obermann, der wenig später von zwei Beamten in den Saal geleitet wurde. Sie befanden sich allein in der Halle, da sie außerhalb der vorgesehenen Besuchszeiten gekommen waren.
Der junge Mann lächelte, als er Milady erkannte, und drückte ihre Hand. Den Butler beäugte er misstrauisch. „Es freut mich, dass Sie mich besuchen, Milady …“
„Ich bin und bleibe Amanda für Sie.“ Lady Marbely nickte ihm aufmunternd zu. „Erzählen Sie bitte, was passiert ist, Stefan!“
„Die Welt ist in den letzten Tagen eine andere geworden. Das Blockhaus wurde niedergebrannt, meine Stiefmutter erschossen, und ich werde des Mordes verdächtigt, weil …“
„Weil“, unterbrach ihn der Butler, „auf der Waffe, mit der Ihre Stiefmutter getötet wurde, Ihre Fingerabdrücke gefunden wurden.“
„Das ist richtig.“
„Und wie erklären Sie sich das?“, fragte der Butler streng.
„Ich habe dafür leider keine Erklärung“, entgegnete der junge Mann. „So sehr ich darüber nachdenke, so wenig verstehe ich das Geschehen.“
„Es macht nur Sinn“, fuhr der Butler fort, „wenn Sie der Kopf, das Gehirn, dieses Bundes 88 wären, der aus Machtgier letztlich die eigenen Leute hinters Licht führen wollte …“
„Unsinn“, unterbrach ihn die Lady. „Dann säße er nicht hier, sondern hätte sich längst in Sicherheit gebracht. Auch ihm wurde übel mitgespielt.“
Stefan Obermann starrte stumm auf die matt glänzende Tischplatte.
„Haben Sie einen Verdacht?“, fragte der Butler.
„Nein!“ Der junge Mann schüttelte heftig den Kopf.
Etwas zu heftig, wie der Butler fand. „Ich schlage vor, Sie helfen uns, alle betreffenden Ereignisse zu rekonstruieren. Sie wollen doch freikommen, oder?“
„Natürlich. Ich bin unschuldig. Das Verhältnis zu meiner Stiefmutter war nicht gerade herzlich, doch ich hatte keinerlei Grund, sie zu töten. Ich habe überhaupt niemanden getötet und werde es auch nie tun.“
„Und Sie wollen, dass der wahre Täter gefunden und zur Verantwortung gezogen wird?“, fuhr der Butler fort.
Stefan Obermann stöhnte auf und schwieg. Lady Marbely nahm seine zitternden Hände in ihre und bat ihn, sich zu erinnern. Und schließlich begann der junge Mann zu erzählen. Zuerst langsam, dann schneller, beinahe atemlos. Nur, als er von seiner Fahrt zum Haus der Mutter berichtete, geriet er ins Stocken.
„Sie verschweigen uns etwas, Stefan“, drängte Milady. „Sie wissen viel mehr, als Sie zugeben. Sie haben vom ehemaligen Führerhauptquartier gewusst, Sie …“
„Ich möchte nichts mehr sagen“, gab sich Stefan Obermann entschlossen.
„Ist auch nicht nötig. Sie haben uns bereits genug verraten!“ Der Butler erhob sich.
Lady Marbely blickte nachdenklich in die traurigen Augen des jungen Mannes. Als sie später mit James gemeinsam wieder im Auto saß, meinte sie: „Er hat Angst um seine Freundin. Sie befindet sich in großer Gefahr.“
„Das sehe ich ebenso, Milady“, stimmte ihr der Butler zu.
„Also, was machen wir?“
„Wir suchen Ruth Henschel.“
Lady Marbely sah den Butler von der Seite an. „Was verbergen Sie vor mir?“
„Ich bin mir nicht sicher, Milady, ob Sie das wirklich wissen wollen.“
„Nur Mut, James!“
„An einem anderen Ort. Ich fühle mich hier nicht besonders wohl.“
„Was schlagen Sie vor?“
„Ihr Interesse hier in Deutschland gilt doch den Märchen und Liedern. Ich schlage Ihnen vor, einen Menschen aufzusuchen, der sich damit intensiv beschäftigt.“
„Und wer ist das?“
„Doktor Helga Winter, eine Psychotherapeutin.“
Читать дальше