„Ich bin nicht allwissend, Stefan. Das wird sich herausstellen, wenn sie von der Polizei verhört wird. Ich denke, es ist eine Gruppe mit einem politischen Ziel.“
„Aber Angela ist kein politisch interessierter Mensch.“
„Siehst du, Stefan, jetzt nähern wir uns dem wichtigen Punkt. Natürlich ist sie das nicht. Ihr Ziel ist die Macht. Sie ist frei von Ideologien und kann die politische Gruppe in ihrem Sinn manipulieren und nutzen. Der Teufel und Faust.“
„Wenn sie der Teufel ist, wer ist dann Faust?“
„Eine wichtige Frage, die wir klären sollten“, erwiderte Ruth.
„Du lächelst wie dein Vater.“ Stefan Obermann küsste Ruth auf den Mund.
*
Der Mann in der Uniform, der sich selbst als zweiter Führer bezeichnet hatte, sagte in schneidendem Ton zu Lady Marbely: „Es ist an der Zeit …“
Lady Marbely überlegte, wie sie ihre Exekution hinauszögern konnte. Sie hatte den Notruf an ihrem manipulierten Ehering noch nicht betätigt, glaubte immer noch, sich selbst aus dieser Situation retten zu können. „Ich muss gestehen, Herr Henschel, es hat mich überrascht, Sie hier zu sehen. Wir vermuteten Sie auf dem Grund des Landeskroner Weihers.“
„Jemand, der für tot gehalten wird, kann ungestörter seinen Geschäften nachgehen.“
„Und die wären in Ihrem Fall?“
„Die Interessen des Bundes 88 . Diese noble Vereinigung wird dem geschundenen Deutschland mit seiner Überfremdung, der Ausplünderung durch die Schurken der EU endlich wieder seine wahre Bestimmung und Identität zurückgeben.“
Lady Marbely spitzte die Lippen. „Ich verstehe.“
„Sie verstehen gar nichts, Gnädigste. Sie sind eine Angehörige eines fremden Volkes. Sie sind der Feind!“
„Ich verstehe, was Sie mit Ausplünderung meinen. Die Politiker meines Landes waren vorsichtig genug, wenigstens nicht den Euro einzuführen.“
„Hexe!“, zischte Alexander Henschel.
Idiot! , dachte Milady.
„Sie schreiben jetzt entweder Ihr Testament, oder Sie sterben.“
„Wenn Sie Oder durch Und ersetzen, trifft es vermutlich eher den Kern der Sache.“
„Geschwätz. Deine Rede sei ja, ja, nein, nein.“
„Das ist kein Zitat Ihres großen, des ersten Führers … falls Sie das glauben sollten. Das sind die Worte Jesu bei der Bergpredigt, die übrigens ein beachtlich modernes Programm für uns alle bietet. Das Gebot Jesu, dass wir den Mitmenschen gegenüber äußerst liberal auftreten, zu uns selbst aber beinahe unbarmherzig streng sein sollen, ist moderner als vieles andere, was …“
„Schreiben Sie, oder Sie sterben!“ Alexander Henschel wirkte hochgradig genervt.
„Lassen Sie mich fünf Minuten allein, dann können Sie Ihr Schriftstück abholen.“
Der Mann verdrehte seine Augen und verließ wortlos die Kerkerzelle.
Lady Marbely hatte derweil einen konkreten Plan entwickelt, wie sie Bewegung in diese verfahrene Situation bringen konnte. Sie entschloss sich, ihr Testament tatsächlich zu verfassen, ihr Vermögen jedoch nicht irgendeiner suspekten Gruppe zu hinterlassen, sondern der Tochter des sogenannten Führers und ihrem Freund. Ruth Henschel und Stefan Obermann waren die Zukunft dieses Landes. Bei ihnen wäre zur Not der immense Besitz Lady Marbelys in Deutschland, aber auch in ihrem Heimatland, in einigermaßen guten Händen. So glaubte sie und schrieb ihren letzten Willen auf Deutsch. Als Alexander Henschel wenig später das Schriftstück las, lächelte er stärker, faltete das Blatt sorgsam und wollte gehen.
Diese Reaktion, oder besser gesagt, das Ausbleiben einer solchen überraschte die Lady. „Was passiert jetzt mit mir?“
„Wir werden uns beraten.“ Der Mann verließ den Kerkerraum, überglücklich, wie es schien.
Lady Marbely war alarmiert. Das merkwürdige Verhalten Henschels verhieß nichts Gutes. Er hatte, entgegen ihrer Annahme, das Testament akzeptiert. Sie hatte damit gerechnet, dass er toben und ihr eine weitere Frist setzen würde. Er wollte sich beraten. Gab es jemanden, der in der Hierarchie über Henschel stand? Konnte das bedeuten, dass sie durch ihren vermeintlichen Schachzug nicht nur sich selbst, sondern auch die beiden jungen Leute in Gefahr gebracht hatte?
Lady Marbely löste den Ehering vom Finger und betätigte den Notruf.
*
„Ich werde meine Stiefmutter mit dem Verdacht konfrontieren“, sagte Stefan.
„Aber sei vorsichtig! Warte! Ich habe eine Waffe, die meinem Vater gehörte. Nimm sie zur Sicherheit.“ Mit diesen Worten reichte Ruth ihrem Freund eine Pistole. „Eine Glock 39. Sie ist geladen. Steig aus!“
Ruth verließ den Maybach, ihr Freund folgte nur sehr zögerlich. „Ich habe noch nie geschossen. Keine Ahnung, wie das geht.“
„Ich zeig es dir.“ Ruth nahm die Waffe zurück und schoss mehrmals gegen einen Baumstamm. Danach reinigte sie die Pistole gründlich mit einem Tuch. „Auch du darfst nicht vergessen, deine Fingerabdrücke zu entfernen, nachdem du geschossen hast.“
„Ich habe nicht vor, Angela zu erschießen!“ Stefan schien entsetzt.
„Die Waffe soll dich doch nur schützen, sonst nichts. Probier es! Los!“
Stefan schoss, traf den Baum jedoch nicht ein einziges Mal.
„Vielleicht genügt es, wenn du in die Luft schießt“, meinte Ruth. „Schon der Knall kann jemanden abschrecken. Fahr jetzt bitte!“
„Das alles hat mich so aufgewühlt, ich kann jetzt nicht fahren“, wehrte Stefan ab.
„In Ordnung. Ich bring dich zum Haus deiner Stiefmutter, dann fahre ich weiter.“
„Wann sehen wir uns wieder?“
„Ich muss noch einiges erledigen. Noch ist mein Vater nicht gefunden. Der Nachlass hängt in der Schwebe. Ich melde mich so bald wie möglich.“
„Aber meine Stiefmutter. Wenn sie tatsächlich …“
„Du klärst das in Ruhe, Stefan. Ich melde mich. Okay?“
„Soll ich dich nicht sofort verständigen, wenn …“
„Ich stelle mein Handy ab und bin frühestens abends wieder erreichbar“, sagte Ruth entschieden, fügte dann aber versöhnlicher hinzu: „Hast du schon den Espresso probiert? Er ist absolut köstlich. Nimm einen Schluck zur Stärkung.“ Sie schaltete die Nespresso-Maschine im Maybach ein.
Stefan stand vor dem Haus, in dem seine Stiefmutter Angela Obermann wohnte. Es war nicht das Haus seiner Kindheit, auch nicht seiner Jugend. Noch vor seiner Internatszeit hatten alle bei den Eltern seines Vaters gewohnt, in einem Haus an der Sieg, das er als hell und sonnenbestrahlt in Erinnerung hatte. Großvater Heinrich war ein ähnlich ernster Mann wie sein Vater gewesen, doch die Großmutter war lebensfroh, etwas rundlich und immer voll guter Laune. Ziemlich ähnlich der englischen Lady, die ihm vom ersten Moment an sympathisch gewesen war. Doch was war nur mit ihr geschehen? Sie meldete sich nicht mehr!
Alles um ihn herum begann chaotisch zu werden. Nichts ergab mehr einen Sinn. Nur Ruth schien einen klaren Kopf zu behalten und wollte offenbar, dass er selbst die Spur aufnahm, da er nicht glauben wollte, was sie vermutete. Und er mochte es immer noch nicht wahrhaben. Angela war zwar immer sehr distanziert zu ihm gewesen, aber keineswegs feindselig. Sie hatte niemals Aggressionen gezeigt, weder ihm noch seinem Vater gegenüber. Und Jakob Aufhauser hätte ihr kein Geld hinterlassen, wenn er einen bösen Verdacht gehabt hätte. Stefan wollte mit ihr reden, in aller Ruhe. Er musste herausfinden, wie Angela die Lage sah. Ohne Beschuldigungen und ohne Ruths Verdacht zu erwähnen. Andererseits war seine Freundin eine erfahrene Menschenkennerin …
Einerseits, andererseits …
Stefan Obermann gab sich einen Ruck und läutete an der Tür zum Haus seiner Eltern, obwohl er einen Schlüssel besaß. Noch gab es das Mansardenzimmer, das er ab seinem sechzehnten Lebensjahr in den Schulferien bewohnt hatte.
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