Der Butler horchte auf. „Sie glauben also auch an Mord?“
„Ich bin überzeugt davon, dass man ihn getötet hat“, antwortete Hans Obermann.
„Sie wissen, wer oder was dahintersteckt?“
„Ich …“ Ein Klirren und ein dumpfer Schlag unterbrachen das Gespräch. Auf Hans Obermanns Stirn zeichnete sich ein kreisrunder roter Fleck ab. Er kippte nach vorn.
Seine Frau eilte auf ihn zu. Der Butler sprang auf, stieß sie mit der linken Hand zu Boden, mit der Rechten drückte er Milady unter den Tisch. „Nicht bewegen!“
„Aber ich kann doch meinen Mann nicht im Stich lassen!“, schrie Frau Obermann.
Der Butler hockte kampfbereit hinter einem der Sessel. „Ihr Mann ist tot.“
*
„Sie bleiben im Wagen, Amanda!“, gab sich der Butler streng, indem er die neue Rolle, die Lady Marbely ihm aufgedrängt hatte, nun für seine Interessen nutzte. „Unsere Gegner entwickeln eine derart massive kriminelle Energie, dass wir mehr auf Sicherheit bedacht sein müssen.“
„Aber …“
„Aber was?“
„Aber, Sir.“
„Kein Aber, Amanda. Ich wage mich allein in die Höhle des Löwen namens GFF , wäre jedoch froh, eine Vollmacht zu erhalten, die mir einen Einblick in die Geschäftsunterlagen der Firma erlaubt, die sich nun rechtlich in Ihrem Besitz befindet.“
„Abgelehnt, Sir. Ich komme mit.“
„Gut, dann folgen Sie mir. Auf eigene Gefahr, auf eigenes Risiko, aber etwas flott, wenn ich bitten darf.“
Den Mord an Hans Obermann hatte der Butler bereits Minuten nach dem Überfall an seine Leitstelle gemeldet. Kaum eine Viertelstunde später war ein Hubschrauber des LKA eingetroffen. Für die geschockte Frau Obermann wurde gesorgt. Jetzt galt es, keine unnötige Zeit zu verlieren.
Die Fahrstrecke von Siegen nach Kirchhundem wäre landschaftlich schön gewesen, hätte es nicht derart stark geregnet. Den Laubbäumen mag dieser Segen von oben in diesen ersten trockenen Frühlingstagen gutgetan haben. Den Einfluss des trüben Wetters auf Lady Marbely, deren seelisches Gleichgewicht nach dem unfreiwilligen LSD-Trip noch nicht ganz wiederhergestellt war, musste man jedoch als bedrückend bezeichnen. Die sonst so gesprächige Dame schwieg während der Fahrt, schaute stur geradeaus, fuhr viel langsamer, als es erlaubt gewesen wäre.
Ein schlechtes Zeichen , dachte der Butler gerade, als die Lady den Wagen in eine Parkbucht lenkte und anhielt. Sie blieb weiterhin stumm. Der Butler bemerkte die Tränen, die aus Lady Marbelys Augen über ihre vollen Wangen liefen.
„Ist Ihnen nicht gut, Amanda?“, fragte der Butler besorgt. „Soll ich übernehmen?“
„Entschuldigen Sie, Sir“, kam die Antwort. „Es ist alles ein bisschen viel auf einmal. Die nächtliche Konfrontation mit dem Teufel, und jetzt auch noch der Tod Hans Obermanns. Ich war dabei, den Mann, wenn schon nicht sympathisch, so doch ehrlich und authentisch zu finden, da liegt er tot neben uns. Und die arme Frau. Wir hätten uns um sie kümmern müssen.“
„Sie wird von Spezialisten versorgt.“
„Ich werde mich telefonisch bei ihr melden. Wenn Sie keine Einwände haben.“
Die Regenwolken wirkten mit einem Mal geradezu freundlich auf den Butler, als die Atmosphäre im Maybach erneut einen Dämpfer erhielt. Lady Marbely, die die Telefonnummer der Obermanns gewählt hatte, erreichte nicht Angela Obermann, sondern den durch den Tod seines Vaters mitgenommenen Sohn.
Nach nur wenigen Worten trennte Lady Marbely die Verbindung. „Der Sohn der Obermanns. Völlig aus dem Häuschen. Er blamiert den Tod seines Vaters auf uns.“ Die Lady war aufgewühlt, ihr Deutsch für den Moment desolat.
Eine halbe Stunde später stärkten sie sich bei Eierlikörtorte und Milchkaffee im Stadtcafé Hilchenbach, einem prächtigen Fachwerkhaus aus dem 18. Jahrhundert. Sie verweilten nicht lange und steuerten nach dieser kreativen Pause Kirchhundem und das Gelände der Gesellschaft für Feinmechanik an. Diese Betriebsstätte wirkte sauber und modern, obwohl die Gebäude schon einige Jahrzehnte alt sein mussten. Der Parkplatz stand voller Autos. Der Butler schätzte, dass dort an die hundert Fahrzeuge abgestellt waren.
Am Glas der Eingangstür zum Bürogebäude war ein Hinweis auf eine Betriebsversammlung um vierzehn Uhr angebracht. In allen Büros brannte Licht. Dennoch war niemand anzutreffen. Als sie am Ende eines Ganges eine Frau mittleren Alters von einer Tür in die nächste huschen sah, machte sich Lady Marbely durch lautes Rufen bemerkbar.
Die Frau, vermutlich eine Sekretärin, reagierte und schritt den Gang entlang auf die Lady und den Butler zu. „Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“
Lady Marbely wies sich als die neue Eigentümerin der Firma aus. Ein Umstand, der die sorgenvolle Miene von Frau Belinda Semmelrogge, so stellte sie sich vor, mit einem Schlag aufhellte. „Ich verständige den Geschäftsführer, Herrn Habermann. Ich führe Sie in sein Büro.“
Der Raum wirkte hell, obwohl die Fenster auf eine Betonwand blickten. Von einem Computermonitor leuchtete der Terminkalender des Herrn Siegbert Habermann, randvoll von morgens um halb neun bis abends um neunzehn Uhr. Ein Blick auf seine Uhr zeigte dem Butler, dass es kurz vor zwölf war.
Herr Habermann wirkte überdreht. Er redete unaufhörlich ab dem Zeitpunkt, an dem er seine Gäste begrüßt und sie gebeten hatte, auf olivgrünen Polstermöbeln Platz zu nehmen. „Ich freue mich sehr, Sie persönlich kennenzulernen, Lady Marbely. Die Tatsache, dass Sie das Erbe unseres Chefs antreten, überrascht mich zwar, aber Herr Henschel war immer für Überraschungen gut. Ja, Herr Henschel war Chef und Eigentümer des Betriebs. Nein, von einem Herrn Aufhauser haben wir nie etwas gehört. Oh doch, natürlich. Wir bezogen Produkte von Aufhauser Metalltechnik in Siegen. Sie können sich vorstellen, dass der plötzliche Tod des Eigentümers zu Unruhe in der Belegschaft führt. Wir haben um vierzehn Uhr eine Betriebsversammlung, bei der wir versuchen werden, die Arbeiter und Angestellten etwas zu beruhigen. Dreihundertsiebenundsechzig Arbeiter, achtundfünfzig Angestellte, mich eingeschlossen. Ja, die Art der Produkte. Sehr global gesehen handelt es sich um feinmechanische Geräte, die zur Herstellung vielfältiger Teile dienen. Richtig gesehen zur Herstellung metallischer Gegenstände.“
Lady Marbely gedachte den Redefluss des Mannes zu unterbrechen. „Also eine illegale Waffenfabrik?“
Der Geschäftsführer zog sein Gesicht in die Länge. „Wie kommen Sie darauf?“
„Instinkt, Herr Habermann. In meinem geliebten Heimatland gibt es ähnliche Feinmechanik. Geräte, die zur Herstellung anderer Geräte dienen. Das sind meist Kanonenrohre, Haubitzen, und der Teufel weiß, was sonst noch.“
„Aber …“
„Schweigen Sie, Habermann! Jetzt rede ich!“ Lady Marbely wurde brüsk. „Sie begegnen mir entweder mit rückhaltloser Offenheit, was die Firma betrifft, oder ich spreche eine sofortige Kündigung aus und leite eine kriminalistische Untersuchung der Vorgänge rund um das Werk Kirchhundem ein.“
„Ich erbitte Bedenkzeit. Da gibt es ziemlich viel zu berücksichtigen.“
„Sie haben bis dreizehn Uhr Zeit. Wir werden inzwischen etwas essen. Sie haben doch eine Kantine?“
„Selbstverständlich. Nur entspricht sie im Standard nicht dem, was man einem Gast wie Ihnen …“
„Ich bin kein Gast. Die Fabrik gehört mir“, stellte die Lady klar. „Zeigen Sie mir bitte den Weg!“
Wenig später verstummten die Stimmen der Männer und Frauen im Speisesaal, als der Geschäftsführer die Lady und den Butler an einen freien Tisch geleitete. „Ich hoffe im Interesse der Belegschaft, dass GFF überleben wird“, verabschiedete sich Habermann. „Es sind sehr schwere Stunden, die viel von uns allen fordern.“
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