Es war Eadulf, der ihm die Erklärung lieferte. Ohne sich von seinem Platz neben der Tür zu lösen, sagte er mit langsamer, gesetzter Stimme: «Dafür gibt es nur einen Grund - Habgier. Cornelius wollte die Bücher selbst besitzen. Er träumte von unermeßlichem Reichtum, wenn ihm diese Werke erst einmal gehörten. Dabei ging es ihm nicht um Geld, sondern um die kostbaren Werke an sich. Er mußte sie haben, ohne sie mit jemandem zu teilen.»
Fidelma nickte anerkennend und fuhr fort: «Deshalb zog er einen Landsmann, den Alexandriner Osimo Lando, ins Vertrauen. Cornelius spielte bereits mit dem Gedanken, einen reichen Mann zu bestehlen, um die Bücher kaufen zu können. Osimo, der als sub-praetor im Amt für ausländische Angelegenheiten tätig war, erfuhr aus erster Hand, welche ausländischen Würdenträger nach Rom kamen und welche Schätze sie bei sich führten.
Der Zufall wollte es, daß Wighard wenige Tage zuvor mit seinem Gefolge angekommen war und wertvolle Geschenke mitgebracht hatte, welche die Forderungen des arabischen Kaufmanns mit Sicherheit hätten befriedigen können. Gemeinsam beschlossen sie, diese Geschenke in ihren Besitz zu bringen. Vielleicht handelte Osimo in der Überzeugung, daß es gottgefällig sei, die wertvollen Bücher vor den Ungläubigen zu retten. Und wahrscheinlich hatte ihm Cornelius auch nicht erzählt, daß er die Bücher als seinen persönlichen Besitz betrachten würde.»
Als sie ihre verblüfften Gesichter sah, hielt sie lächelnd inne und fuhr nach kurzem Schweigen fort: «Osimo Lando hatte einen engen Freund, Bruder Ronan Ragallach. Osimo überredete Cornelius, seinen Freund in ihr Vorhaben einzuweihen. Drei Köpfe seien klüger als einer oder zwei. Sie beschlossen, Wighard im Schlaf auszurauben, und Ronan erklärte sich bereit, das domus hospitale auszukundschaften und einen entsprechenden Plan zu schmieden ...»
«Das war an dem Abend vor Wighards Tod», ergriff Furius Licinius das Wort. «Fast hätte ich ihn erwischt, wie er im Innenhof vor dem domus hospitale herumschlich.» Er lächelte verlegen. «Doch er täuschte mich und entkam.»
Fidelma nickte. «Ronan hat die Örtlichkeiten sehr genau in Augenschein genommen. Wie Ihr alle wißt, gibt es hinter dem domus hospitale einen weiteren, kleineren Innenhof. Unmittelbar unter den Fenstern des Gästehauses verläuft ein schmaler Sims. Doch an dem neueren Gebäude, das an das Gästehaus grenzt, führt ein sehr viel breiterer Sims fast bis zu der Kammer, in der man Bruder Eanred untergebracht hatte. Das Glück war auf der Seite der Verschwörer, denn in diesem neueren Gebäude, von dem ich spreche, befand sich ausgerechnet das munera peregrinitatis, in dem Osimo und Ronan ihr officium hatten. Der Sims bot ihnen die Gelegenheit, ins domus hospitale zu gelangen, ohne dabei die Aufmerksamkeit der auf den Treppen und in den Innenhöfen postierten custodes auf sich zu ziehen.
Um ungestört eindringen zu können, mußte allerdings Bruder Eanred rechtzeitig aus seinem Zimmer verschwinden. Cornelius überredete daher Eanred, an dem fraglichen Abend mit in seine Villa zu kommen, und lud ihn zum Wein ein, während seine Komplizen über Eanreds Kammer in Wighards Gemächer eindrangen. Alles lief wie geplant, bis ...»
Fidelma hielt inne und betrachtete aufmerksam die Gesichter der Anwesenden.
Marinus starrte noch immer mit steinernem Gesicht ins Leere, doch bei Gelasius regte sich offenbar Neugier.
«Bis was?» fragte er. «Ist etwas dazwischengekommen?»
«Der Plan sah vor, daß Ronan sich in Wighards Gemächer schlich. Osimo sollte in Eanreds cubicu-lum warten. Ronan hatte die Aufgabe, einen Sack mit den kostbaren Geschenken zu füllen und ihn Osimo zu bringen, der ihn dann über den Sims zurück ins munera peregrinitatis schaffte. Ronan würde dann einen zweiten Sack füllen und ihm folgen», erklärte Eadulf.
«Doch als Ronan in Wighards Schlafgemach kam, fand er den zukünftigen Erzbischof tot auf seinem Bett», ergriff Fidelma wieder das Wort. «Zuerst wollte Ronan fliehen, doch dann fiel ihm ein, daß Wighards Tod ihrem ursprünglichen Plan nicht entgegenstand. Er öffnete die hölzerne Truhe, füllte einen Sack, versteckte die Sachen, von denen er annahm, daß sie sich nicht in klingende Münze verwandeln ließen, und eilte zu Osimo. Dieser kehrte über den Sims ins andere Gebäude zurück, während Ronan noch einmal in Wighards Gemächer schlich, um den Rest der Beute zu holen.
Er wollte gerade mit dem zweiten Sack durch Eanreds Kammer hinausklettern, als ihm voller Schreck einfiel, daß er die Tür zu Wighards Gemächern nicht verschlossen hatte. Er traf die folgenschwere Entscheidung, ein drittes Mal auf den Flur hinauszuschleichen. Er ließ den zweiten Sack am offenen Fenster stehen, ging hinaus - und stieß auf decurion Marcus Narses, der die offene Tür bereits gesehen hatte. Wie Ronan befürchtet hatte, hatte Narses Wighards Leiche entdeckt, ehe er und Osimo ihre Beute fortschaffen konnten. Ronan saß in der Falle. Geistesgegenwärtig versuchte er, über die Treppe zu fliehen und den decurion damit von seinem Freund Osimo und dem Diebesgut abzulenken.»
Fidelma hielt inne und lächelte matt. «Marcus Narses selbst gab mir unwissentlich den entscheidenden Hinweis darauf, daß Ronan den Tatort nicht unmittelbar nach dem Mord verlassen haben konnte. Der decurion sagte, als er Wighard gefunden habe, sei die Leiche bereits kalt gewesen. Hätte Ronan Wighard erst kurze Zeit davor ermordet, hätte sie noch warm sein müssen. Wighard war zu diesem Zeitpunkt jedoch mindestens schon eine Stunde oder länger tot.»
Gelasius räusperte sich. «Warum wurde der zweite Sack bei der Durchsuchung des Gebäudes nicht gefunden?»
«Weil Osimo, nachdem er eine Weile auf Ronan gewartet hatte, besorgt war und zurück in Eanreds cubiculum schlich. Er fand den verlassenen Sack und hörte die Geräusche draußen im Flur. Als ihm klar wurde, daß Ronan gefaßt worden war, beschloß er, den zweiten Sack an sich zu nehmen und ihn in sein officium zu bringen. Anschließend versteckte er beide Säcke in seiner Unterkunft, wo Cornelius sie abholen sollte, um sie gegen die Bücher einzutauschen.»
Kurz ließ Fidelma schweigend den Blick von einem zum anderen schweifen, dann faßte sie das bisher Gesagte zusammen: «Der Diebstahl fand also rein zufällig in der gleichen Nacht statt wie der Mord. Beide Verbrechen haben nichts miteinander zu tun.»
«Aber wer hat Wighard dann ermordet?» ergriff Marinus zum ersten Mal das Wort. «Ihr sagt uns, daß Ronan Ragallach nicht schuldig ist. Und nach Eurer Schilderung war auch Bruder Eanred nicht der Mörder. Aber irgend jemand muß es doch gewesen sein!»
Fidelma sah den superista lächelnd an. «Habt Ihr etwas Wasser? Meine Kehle ist furchtbar trocken.»
Furius Licinius ging eilig zum Tisch, auf dem ein Tonkrug und einige Trinkgefäße bereitstanden. Er schenkte etwas Wasser ein und brachte es Fidelma, die dem jungen custos dankbar zunickte und an dem Becher nippte. Die anderen warteten ungeduldig.
«Den entscheidenden Hinweis verdanke ich dem toten Bruder Ronan Ragallach», sagte sie endlich.
Selbst Eadulf beugte sich erstaunt vor, ging stirnrunzelnd sämtliche Ermittlungsergebnisse durch und fragte sich, was ihm entgangen war.
«Wie Cornelius uns erzählte, war Ronan Ragal-lach nur allzu bereit, bei dem Diebstahl mitzumachen, weil er Wighard verabscheute.» Fidelma stellte das Trinkgefäß auf einen kleinen Tisch. «Ronan erzählte Osimo in diesem Zusammenhang eine Geschichte, die Osimo später an Cornelius weitergab.»
Gelasius seufzte so laut, daß die anderen erschrocken zusammenfahren. «Können wir nicht zum Wesentlichen kommen? Der eine erzählt dem anderen eine Geschichte, der sie wiederum einem dritten erzählt .»
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