Wulfruns Mund öffnete und schloß sich mehrere Male, ohne daß ein Laut zu hören war. Endlich stieß sie hervor: «Wie könnt Ihr es wagen! Ein fremdes Bauernmädchen! Ich bin eine Prinzessin von Kent. Ich wette, Ihr wißt nicht einmal, wer Euer Vater ist?»
Mit stummem Entsetzen sah Eadulf, wie Fidelmas Wangen sich ebenfalls röteten und wie sie die hochfahrende Äbtissin finster anfonkelte. Fast befürchtete er, die irische Geistliche könnte angesichts dieser Beleidigung die Beherrschung verlieren. Doch Fidelma nahm sich zusammen und lehnte sich lächelnd auf ihrem Stuhl zurück. Als sie sprach, klang ihre Stimme ruhig und besonnen.
«Mein Vater, Äbtissin Wulfrun, ist der gleiche wie Eurer: der eine, wahre Gott, dem wir gemeinsam dienen ...»
Äbtissin Wulfrun schnaubte verächtlich, aber ehe sie antworten konnte, fuhr Fidelma fort. «Da Ihr Euch jedoch offenbar mehr mit weltlichen Dingen beschäftigt als mit dem Glauben, der für Euch eigentlich an erster Stelle stehen sollte, will ich Euch verraten, daß mein weltlicher Vater Failbe Fland mac Aedo, König von Cashel und Munster war und mein Bruder Colgü heute an seiner Statt regiert. Nicht, daß ich damit prahlen möchte, denn meine Taten sind alles, was in diesem Leben zählt. Als Advokatin an den Gerichtshöfen meines Heimatlandes setze ich mich für die Gerechtigkeit ein. Wohl auch aus diesem Grund haben mich der superista und der nomenclator Seiner Heiligkeit beauftragt, in diesem Mordfall zu ermitteln.»
Eadulf war überrascht. Es war das erste Mal, daß Fidelma über ihre Herkunft gesprochen hatte. Unbeirrt von den wütenden Blicken der hochmütigen Äbtissin sprach sie weiter: «Als ich in den Dienst des auferstandenen Christus trat, unterwarf ich mich seiner Lehre, die besagt, daß wir vor ihm alle gleich sind. Kennt Ihr nicht die Stelle aus dem Brief des Timotheus: ?»
Äbtissin Wulfruns Gesicht zuckte vor Zorn. Sie sprang so heftig auf, daß ihr Stuhl nach hinten fiel. Wegen der heftigen Bewegung verrutschte ihre Kopfbedeckung und gab einen Teil ihres Halses frei. Erschrocken betrachtete Fidelma den auffälligen roten Striemen an der Kehle der Äbtissin, der offenbar von einer alten Wunde herrührte. Wul-frun, die das gar nicht bemerkt hatte, zischte aufgebracht: «Ich lasse mich nicht beleidigen von . von .»
Ihr fehlten die Worte. Wütend stürmte sie aus dem Zimmer. Furius Licinius sah ihr hilflos nach.
Kopfschüttelnd lehnte Bruder Eadulf sich zurück. «Die Äbtissin habt Ihr Euch auf jeden Fall zur Feindin gemacht, Fidelma», sagte er mit Bedauern.
Fidelma wirkte äußerlich ruhig, aber ihre Wangen waren noch immer gerötet, und ihre grünen Augen blitzten. «Wer sich keine Feinde macht, wird auch keine Freunde gewinnen», entgegnete sie. «Schließlich kann man einen Menschen nach seinen Feinden beurteilen, und ich ziehe es vor, eine solche Frau zur Feindin anstatt zur Freundin zu haben.» Sie wandte sich an Furius Licinius. «Sucht nach Schwester Eafa und bringt sie zu uns, ohne daß Äbtissin Wulfrun etwas davon erfährt.»
Der verwirrte tesserarius salutierte. Es war das erste Mal, daß er einen Befehl von Fidelma mit einem militärischen Gruß entgegennahm.
«Warum die Geheimniskrämerei?» fragte Eadulf neugierig, als Furius Licinius gegangen war.
«Diese Äbtissin Wulfrun ist wirklich auffallend herrisch. Steckt bloß Dummheit dahinter, oder hat ihr Gehabe irgendeinen Sinn? Versucht sie, durch ihren Hochmut etwas zu verbergen?»
Der sächsische Bruder verzog das Gesicht. «Sie hat sehr mächtige Verwandte, Fidelma. Ich an Eurer Stelle würde vorsichtiger sein.»
«Ihre Macht beschränkt sich auf die sächsischen Königreiche. Ich habe nicht die Absicht, dorthin zurückzukehren, wenn ich hier fertig bin.»
Eadulf wunderte sich, warum der Gedanke an ihre Abreise ihm einen so schmerzlichen Stich versetzte.
«Wie dem auch sei», erwiderte er. «Offenbar kann Äbtissin Wulfrun ein Licht auf die Sache werfen.»
Fidelma sah ihn nachdenklich an. «Immerhin ist deutlich geworden, daß sie nicht offen ist und es vorzieht, sich hinter ihrem Hochmut zu verstecken. War es nicht Ovid, der sagte, Angriff sei die beste Verteidigung?»
Eadulf blickte finster vor sich hin. «Aber was könnte sie uns verheimlichen wollen?»
Fidelma grinste. «Ich glaube, es liegt an uns, das zu entdecken.»
Eadulf nickte. «Aber welche Bedeutung hätte das für unsere Untersuchung?»
Fidelma beugte sich vor und legte eine Hand auf Eadulfs Arm. «Ich fürchte, Ihr dreht Euch im Kreis, Eadulf. Laßt uns das Ganze doch einmal durchdenken.» Sie lehnte sich zurück. «Warum fühlt die Äbtissin sich so bedrängt, daß sie ihr Heil im Angriff sucht? Verhält sie sich immer so, oder weiß sie etwas, das sie zu diesem Gebaren zwingt?»
Eadulf musterte sie ratlos.
«Ich glaube», fuhr Fidelma nach einer Weile fort, «daß es vermutlich an ihrer Art liegt. Ich habe von ihrem Vater, diesem König Anna, gehört. Der frühere Anhänger Wotans hat sich zum wahren Glauben bekehren lassen. Soweit ich im Bilde bin, hatte Anna mehrere Töchter, die er in seiner Begeisterung allesamt zu Dienerinnen Christi machte. Wir wissen, was geschehen kann, wenn Väter ihren Töchtern einen Lebensweg aufzwingen, den sie freiwillig nie eingeschlagen hätten.»
«Aber Töchter haben kaum eine andere Wahl, als ihren Vätern zu gehorchen», erwiderte Eadulf. «Schreibt der heilige Paulus nicht: ?»
Fidelma lächelte nachsichtig. «Und schreibt Paulus nicht weiter: ? Aber ich vergesse manchmal, daß wir aus zwei sehr unterschiedlichen Welten stammen. Bei den Sachsen scheint es Sitte zu sein, daß Väter ihre Töchter verkaufen wie Vieh.»
«Aber das Gesetz der Sachsen steht in größerer Übereinstimmung mit Paulus’ Lehre», sagte Ea-dulf, der aus Erfahrung wußte, welch gleichberechtigte Stellung die Frauen in Irland genossen. «Paulus schreibt: Dieser Lehre folgen wir.»
«Ich ziehe die Sitte meines Heimatlandes vor, wo den Frauen zumindest eine gewisse Wahl zugebilligt wird», entgegnete Fidelma gereizt. «Wir brauchen Paulus nicht in all seinen Ansichten zu gehorchen, denn er war ein Mann seiner Kultur, die nicht meine Kultur ist. Außerdem stimmten nicht einmal alle Gläubigen in Paulus’ Umgebung mit seinen Lehren überein. Paulus setzte sich für den Zölibat aller Geistlichen ein und betrachtete alles Geschlechtliche als hinderlich für die höheren Ziele der Seele. Wer könnte das allen Ernstes glauben?»
Eadulf räusperte sich verlegen. «Aber es muß doch so sein. Schließlich war es die Ursache für Adams und Evas Sündenfall.»
«Wie kann die Geschlechtlichkeit Sünde sein, wenn die Fortpflanzung für das Überleben der Menschheit notwendig ist? Sollen wir glauben, daß Gott uns zum Untergang verdammte, indem er die Fortpflanzung zur Sünde machte? Und wenn es eine Sünde ist, warum hat er uns dann überhaupt die Mittel zur Fortpflanzung gegeben?»
«Paulus schrieb an die Korinther, die Ehe und die Zeugung von Nachkommen seien keine Sünde», hielt Eadulf dagegen.
«Nicht ohne jedoch hinzuzufugen, daß sie weniger heilbringend seien als der Zölibat. Ich glaube, daß Roms Forderung an seine Geistlichen, der geschlechtlichen Liebe zu entsagen, große Gefahren in sich birgt.»
«Es ist nicht mehr als ein Vorschlag», sagte Eadulf. «Seit dem Konzil von Nicäa bis zum heutigen Tag hat die römische Kirche ihren Geistlichen, die im Rang unter dem eines Abts oder Bischofs stehen, nur nahegelegt, ihren Ehefrauen nicht beizuwohnen oder möglichst gar nicht zu heiraten. Sie hat es ihnen nicht verboten.»
«Über kurz oder lang wird sie es ihnen verbieten», antwortete Fidelma. «Johannes Chrysosto-mus hat sich in Antiochia gegen jegliches Zusammenleben von männlichen und weiblichen Ordensleuten ausgesprochen.»
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