»Nach Rae na Scrine?« wiederholte Fidelma.
»So steht es verzeichnet«, antwortete Bruder Conghus mit einem zufriedenen Lächeln. »Sie wollte ein Buch von Schwester Eisten abholen und ihr Medikamente bringen.«
»Sie könnte auch in die entgegengesetzte Richtung nach Cuan Doir gegangen sein«, vermutete sie. »Oder sie und Schwester Eisten könnten anschließend nach Cuan Doir gereist sein.«
»Sie hätte es uns gesagt, wenn sie nach Cuan Doir wollte«, antwortete Conghus unerschütterlich. »Es gibt keinen Hinweis darauf.«
»Wenn es verzeichnet worden wäre.«
»Natürlich wäre es verzeichnet worden. Salbach im Auftrag der Abtei zu besuchen hätte der Genehmigung und des Segens des Abts bedurft.«
»Wer sagt denn, daß sie im Auftrag der Abtei dort war?« fragte Fidelma.
»Warum denn sonst sollte die Bibliothekarin den Fürsten dieser Gegend aufsuchen?«
»Ja, warum wohl?« Fidelma war mit ihrer Geduld am Ende. »Besten Dank für deine Hilfe, Conghus.«
»Meinst du, daß er uns etwas verheimlicht?« fragte Cass Fidelma, als sie draußen waren. »Er scheint nicht sonderlich hilfsbereit zu sein.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich vermute, Bruder Conghus lebt einfach nach den Regeln und kann sich nicht vorstellen, daß es jemand nicht tut.«
Während sie noch da standen und redeten, kam Bruder Conghus heraus geeilt, nickte ihnen kurz zu und hastete über den gepflasterten Hof zum Glockenturm.
»Es muß Zeit für die Completa sein«, murmelte Cass.
Wie zur Antwort begann wenige Augenblicke später die Glocke die Brüder zum Gottesdienst zu rufen.
Zuletzt hatte Fidelma in Rom an einer so großartigen Messe teilgenommen, als die Leiche Wighards, des ermordeten Erzbischof-Anwärters von Canterbury, in der prunkvollen runden Basilika von St. Johannes im Lateran aufgebahrt lag. Ein Dutzend Bischöfe und ihr Gefolge und der Heilige Vater selbst hatten den Gottesdienst gehalten.
Die dunkle, hohe Abteikirche war nicht mit dem Glanz der römischen Basilika zu vergleichen, doch eindrucksvoll war sie auch. Wandbehänge bedeckten die hohen Granitmauern, und Kerzen verbreiteten Wärme, Licht und verschiedenartige Düfte. Fidelma saß in der Bank für Ehrengäste und Cass neben ihr. Ringsum standen die Mönche, Nonnen und Schüler der Abtei, um dem verschiedenen König Cathal von Cashel die Ehre zu erweisen. Fidelma musterte die Gesichter sorgfältig, konnte aber Schwester Grella nicht entdecken.
Die Chorsänger erhoben ihre Stimmen zum Sanctus.
»Is Naofa, Naofa, Naofa Tu, a Thiarna. Dia na Slua...«
»Du bist heilig, heilig, heilig, o Herr der Heerscharen ...«
Etwas ließ Fidelma quer durch das Kirchenschiff schauen, etwas wie ein sechster Sinn trieb sie dazu.
Sie blickte in die Augen von Schwester Necht, die sie wie gebannt anstarrte. Die Novizin hatte sie beobachtet; nun senkte sie rasch den Kopf und schaute zu Boden. Fidelma wollte sich abwenden, als sie merkte, daß noch jemand starr in den Raum blickte, doch in diesem Fall war Schwester Necht selbst das Ziel und der rundgesichtige Bruder Rumann der Beobachter. Neben Rumann saß Bruder Midach und schaute ebenfalls auf die junge Novizin. Fidelma sah zu ihrer Überraschung, daß jede Spur von Fröhlichkeit aus dem Gesicht des Arztes gewichen war. Wenn Blicke töten könnten, dachte sie, dann wäre Midach bestimmt am Tod der jungen Frau schuldig. Plötzlich spürte Midach ihren Blick, zwang sich zu einem Lächeln und konzentrierte sich mit gesenkten Augen auf den Gottesdienst. Als sie Bruder Rumann noch einmal anschaute, lauschte auch der aufmerksam den Worten der Liturgie.
Fidelma fragte sich, was das alles zu bedeuten habe. Als sie wieder dem Gottesdienst zu folgen vermochte, waren die Chorsänger schon beim Agnus Dei angekommen.
In der Pause vor dem Einsatz zum A Ri an Domh-naigh - Großer Gott - war plötzlich ein seltsames Geräusch zu hören. Die Chorsänger verstummten. So wurde das Geräusch besser wahrnehmbar. Ein erschrockenes Murmeln lief durch die Menge, denn nun erkannte man deutlich das herzzerreißende Schluchzen eines Kindes.
Jeder schaute sich suchend nach dem Kind um, doch niemand fand heraus, woher das Schluchzen kam. Es schien die große Abteikirche zu durchziehen, sich an ihren Granitmauern zu brechen und widerzuhallen.
Mehrere Brüder, bei denen der Aberglaube stärker war als die Logik, sanken in die Knie.
Selbst Abt Brocc tauschte beunruhigte Blicke mit den älteren Priestern.
Fidelma spürte, wie Cass ihren Arm berührte. Der Krieger nickte zum Kirchenschiff hin, und als Fidelma seinem Blick folgte, sah sie, wie Bruder Midach rasch das Gebäude verließ.
Kurz bevor er die Tür erreichte, hörte das Weinen plötzlich auf. Alles war totenstill. Als die Tür hinter Midach zuschlug, fuhr die ganze Gemeinde zusammen.
Der Chordirigent klopfte auf sein hölzernes Pult, und die Stimmen erhoben sich nun zum A Ri an Domhnaigh , zögernd zuerst, doch dann mit wachsender Zuversicht und Stärke.
Der Gottesdienst verlief ohne weiteren Zwischenfall. Abt Brocc sprach beredt und voller Trauer über den Tod des alten Königs durch die Gelbe Pest, aber freudig über die Einführung des neuen Königs und erflehte den Segen Christi, Seiner Apostel und aller Heiligen der fünf Königreiche für die künftige Wohlfahrt des Königreichs und für eine weise Regierung des neuen Herrschers Colgü.
Als sich die Gemeinde nach dem Schlußsegen langsam zerstreute, sagte Fidelma zu Cass, sie würde später mit ihm reden, und bahnte sich einen Weg durch die Menge auf die andere Seite des Kirchenschiffs, dorthin, wo sie Schwester Necht gesehen hatte. Doch als sie anlangte, war Necht bereits verschwunden.
Fidelma unterdrückte einen verärgerten Seufzer und wandte sich zur nächsten Tür, die auf den Hof gegenüber den mächtigen Speichern der Abtei hinausführte. Die Nacht wurde vom unruhigen Licht vieler Laternen erhellt, die man wohl angezündet hatte, damit alle ihren Weg zu den verschiedenen Schlafsälen fanden.
Ihren Gedanken nachhängend, entschloß sich Fidelma, nicht sofort zum Gästehaus zurückzugehen, sondern dem Pfad zum Kräutergarten zu folgen, den Bruder Segan ihr gezeigt hatte. Sie wollte allein sein und nachdenken, und dafür schien ihr der duftende kleine Garten der ideale Ort.
Ein leiser Schrei aus dem Sträuchergarten vor ihr veranlaßte sie stehenzubleiben.
An dem Brunnen im Arboretum waren zwei Schatten zu erkennen. Eine schlanke Gestalt wurde von einer kräftigeren, mehr männlich aussehenden festgehalten. Die zierlichere Gestalt kam Fidelma irgendwie bekannt vor.
»Du freches junges ...«
Die Stimme erkannte sie als die Bruder Midachs. Sie klang jetzt scharf und zornig.
Fidelma sah, wie der Arzt die Hand hob und damit der anderen Gestalt auf den Hinterkopf schlug.
Sie gab einen Schmerzenslaut von sich.
»Wie kannst du es wagen, mich zu schlagen!« sagte eine heisere Stimme, von der Fidelma meinte, sie müßte sie kennen.
Fidelma wollte schon vortreten und fragen, was es da gäbe, als sie hörte, wie Bruder Midachs Stimme der anderen Gestalt Vorwürfe machte.
»Du tust, was ich dir sage. Solch ein Ausbruch kann uns alle ins Verderben stürzen! Die Grabstätte hat ein Echo. Wenn wir entdeckt werden, ist das das Ende unserer Hoffnungen auf Osraige.«
Die Schatten bewegten sich in der Dunkelheit, und sie verlor sie aus den Augen. Im Arboretum rührte sich nichts mehr.
Fidelma lauschte, hörte aber nichts.
Sie schritt vorsichtig vorwärts. Es war, als habe der Erdboden sich plötzlich geöffnet und die Gestalten verschluckt, denn der ummauerte Garten besaß keine andere Tür als die, durch die sie gekommen war.
Sie untersuchte das Gelände so sorgfältig wie möglich, fand aber keine Spur von Midach und der anderen Gestalt, keinen Durchgang und keine Pforte, durch die sie hätten verschwinden können. Sie spähte sogar in die Schwärze des Brunnens hinunter, des Brunnens des heiligen Fachtna, doch sie hatte ihn bei Tageslicht gesehen und wußte, daß er in eine fast bodenlose Tiefe führte.
Читать дальше