»Das ist mir nicht entgangen«, erwiderte Fidelma.
»Ich kann aber keine Wunder vollbringen, auch wenn mein Bruder das von mir erwartet.«
»Vielleicht müssen wir uns damit abfinden, vielleicht ist es unser Schicksal, daß es zum Krieg kommt.«
»Schicksal!« entgegnete Fidelma zornig. »Ich glaube nicht an die Vorherbestimmung, selbst wenn manche Männer der Kirche das tun. Das Schicksal ist nur eine Entschuldigung des Tyrannen für seine Verbrechen und eine Entschuldigung des Toren dafür, daß er sich dem Tyrannen nicht entgegenstellt.«
»Wie willst du aber das Unausweichliche ändern?« fragte Cass.
»Indem ich erst einmal sage, daß es nicht unausweichlich ist, und dann darangehe, etwas dagegen zu unternehmen!« erwiderte sie energisch.
Wenn sie zu diesem Zeitpunkt etwas nicht gebrauchen konnte, dann war es jemand, der ihr einreden wollte, die Dinge seien unvermeidlich. Sophokles hatte geschrieben, daß man das, was die Götter über einen verhängten, mit Standhaftigkeit ertragen müsse. Doch damit zu erklären, daß die eigenen Fehlleistungen einfach Schicksal seien, das war eine Philosophie, die Fidelma fern lag. Der Schicksalsglaube diente nur dazu, sich eine Wahl zu ersparen.
Cass hob die Hand, öffnete sie und machte eine resignierende Geste.
»Deine Philosophie ist lobenswert, Fidelma. Aber manchmal ...«
»Genug davon!«
Ihr Ton ließ Cass verstummen. Colgü von Cashel hatte seiner Schwester eine große Verantwortung auf die Schultern geladen - eine zu große vielleicht? Wie Cass es sah, war der Mord an Dacan ein Rätsel, das nie gelöst werden würde. Da war es wohl besser, sich einfach auf einen Krieg mit Laigin vorzubereiten, als die Zeit damit zu vergeuden, die verwickelten Fäden dieses Geheimnisses entwirren zu wollen.
Fidelma setzte sich auf einen Felsen und schaute aufs Meer hinaus. Cass stand neben ihr. Während sie nachdachte, versuchte sie sich an das zu erinnern, was ihr alter Lehrer, der Brehon Morann von Tara, ihr einmal gesagt hatte.
»Lieber zweimal fragen als dich einmal verlaufen, mein Kind«, hatte er ihr geraten, als sie einmal eine Aufgabe nicht lösen konnte, weil sie die Ausgangssituation nicht mitbekommen hatte, die er vorgegeben hatte.
Welche Frage hatte sie nicht gestellt; welche Ausgangssituation hatte sie nicht ganz begriffen?
Plötzlich sprang Fidelma auf. »Ich muß doch blöd sein!« verkündete sie.
»Wieso denn?« fragte Cass.
»Ich habe im stillen schon über die Unlösbarkeit meiner Aufgabe gestöhnt, noch ehe ich sie richtig in Angriff genommen habe.«
»Und ich habe geglaubt, du hättest einen sehr guten Anfang gemacht.«
»Ich bin bisher bloß an der Oberfläche geblieben«, antwortete sie. »Ich habe ein paar Fragen gestellt, aber nicht wirklich nach der Wahrheit gesucht. Komm, es gibt viel zu tun!«
Sie liefen rasch zurück zur Abtei, durch die Tür in der Mauer und über den gepflasterten Hof. Hier und da wandten sich kleine Gruppen von Schülern und einige der unterrichtenden Mönche und Nonnen nach ihnen um und musterten sie verstohlen, denn der Zweck ihres Kommens hatte sich schnell in der Abtei herumgesprochen. Fidelma und Cass ignorierten die Blicke und schritten dem Haupttor zu, wo sie fanden, wen sie suchten, die Schwester Necht nämlich.
Fidelma wollte sie gerade anrufen, als Necht aufsah und sie erblickte. Sie rannte ihr mit unziemlicher Eile entgegen.
»Schwester Fidelma!« keuchte sie. »Ich wollte dich gerade suchen gehen. Bruder Tola hat mir dies Päckchen für dich gegeben. Es ist von Bruder Martan.«
Sie reichte Fidelma etwas, das in Sackleinen eingewickelt war. Fidelma nahm es und schlug das Leinen auseinander. Darin lagen mehrere lange Stoffstreifen, die anscheinend von einem größeren Stück abgerissen worden waren. Sie hatten tiefbraune Flecken, Blutflecken. Der Stoff selbst war blau und rot. Die Streifen waren ausgefranst und wirkten brüchig. Fidelma nahm einen, packte die Enden mit je einer Hand und zog kräftig. Der Stoff zerriß sofort.
»Nicht sehr wirksam als Fessel«, stellte Cass fest.
Fidelma sah ihn anerkennend an.
»Nein«, sagte sie nachdenklich, wickelte die Leinenstreifen wieder ein und steckte sie in ihre große Tasche. »Jetzt, Schwester Necht, führe uns bitte zu Schwester Grella in die Bibliothek.«
Zu ihrer Überraschung schüttelte das Mädchen den Kopf.
»Das kann ich nicht tun, Schwester.«
»Wieso nicht?« fragte Fidelma gereizt.
»Der Abt hat mich losgeschickt, damit ich dich suche und zu ihm bringe. Er sagt, er muß dich sofort sprechen.«
»Na schön«, sagte Fidelma widerwillig. »Wenn Abt Brocc mich sprechen will, dann muß ich zu ihm gehen. Doch weshalb ist das so dringend?«
»Vor zehn Minuten ist Salbach, der Fürst der Cor-co Loigde, hier eingetroffen, auf eine Nachricht hin, die ihm Brocc gesandt hat. Der Fürst scheint äußerst erbost zu sein.«
Fidelma und Cass folgten Schwester Necht, die ihnen zu den Räumen des Abts voranging. Als die Novizin merkte, daß Cass mitkam, blieb sie verlegen stehen.
»Was gibt’s?« wollte Fidelma wissen.
»Ich soll nur dich zum Abt bringen, Schwester«, erklärte sie mit einem entschuldigenden Blick auf Cass.
»Na gut«, seufzte Fidelma. »Du kannst im Gästehaus auf mich warten, Cass.«
Der hochgewachsene Krieger zog ein etwas enttäuschtes Gesicht, kehrte aber um. Die breitschultrige junge Nonne war ziemlich aufgeregt und eilte voran, während Fidelma ihr gemessenen Schrittes folgte. Die Novizin mußte mehrmals stehenbleiben und auf sie warten. Fidelma ließ sich nicht antreiben, sie hatte nicht vor, aufgeregt und atemlos vor dem Abt und dem Fürsten der Corco Loigde zu erscheinen.
»Schon gut, Necht«, meinte Fidelma schließlich, »von hier aus kenne ich den Weg zu den Räumen des Abts, du kannst mich unbesorgt allein lassen.«
Das Mädchen wollte anscheinend protestieren, aber dann nickte es gehorsam und verschwand.
Fidelma ging weiter über den gepflasterten Hof zu dem Gebäude, in dem die Zimmer des Abts lagen. Sie war gerade in den schmalen, dunklen Gang getreten und hatte die Treppe erreicht, die in den zweiten Stock führte, als sich aus der Dunkelheit ein Schatten löste.
»Schwester!«
Fidelma blieb stehen und spähte gespannt ins Dunkel. Die Gestalt kam ihr bekannt vor.
»Bist du das, Cetach?«
Der Junge trat ins trübe Licht.
»Ich muß mit dir sprechen«, flüsterte er, als fürchte er, jemand könne ihnen zuhören. Er wirkte verängstigt.
»Im Augenblick geht das schlecht«, erwiderte Fidelma. »Ich bin auf dem Weg zum Abt. Treffen wir uns später ...«
»Nein, warte!« Es war beinahe ein Verzweiflungsschrei. Cetach packte Fidelmas Arm.
»Was ist? Wovor fürchtest du dich?«
»Salbach, der Fürst der Corco Loigde, ist beim Abt.«
»Das weiß ich«, antwortete Fidelma. »Aber wovor hast du Angst, Cetach?«
»Wenn du mit ihm sprichst, sag ihm nichts von mir und meinem Bruder.«
Fidelma ärgerte sich darüber, daß sie im Dunkeln das Gesicht des Jungen nicht besser sehen konnte.
»Hast du Angst vor Salbach?«
»Das ist eine lange Geschichte, das kann ich dir jetzt nicht erklären, Schwester. Bitte erwähne uns nicht. Sag nicht einmal, daß du uns kennst.«
»Warum? Was habt ihr von Salbach zu befürchten?«
Der Griff des Jungen an ihrem Arm wurde noch fester.
»Bitte, Schwester!« Seine Stimme war so voller Angst, daß Fidelma beruhigend seine Schulter tätschelte.
»Nun gut«, sagte sie. »Ich gebe dir mein Versprechen. Doch wenn ich fertig bin, müssen wir miteinander reden, und du mußt mir sagen, was das alles zu bedeuten hat.«
»Du versprichst, daß du uns nicht erwähnst?«
»Das verspreche ich«, antwortete sie ernst.
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