»Gab es denn überhaupt niemanden in der Abtei, mit dem er mehr sprach als mit anderen?«
Rumann zuckte die Achseln.
»Allenfalls unsere Bibliothekarin, Schwester Grella. Vermutlich deswegen, weil er soviel in unserer Bibliothek forschte.«
Fidelma nickte nachdenklich.
»Ach ja, ich habe gehört, daß er nach Ros Ailithir kam, um bestimmte Texte zu studieren. Mit Schwester Grella werde ich später reden.«
»Natürlich unterrichtete er auch«, ergänzte Ru-mann. »Er gab Geschichte.«
»Kannst du mir sagen, wer seine Schüler waren?«
»Nein. Danach müßtest du unseren fer-leginn fragen, unseren Rektor, Bruder Segan. Er entscheidet alles, was hier mit den Studien zu tun hat. Natürlich untersteht auch er Abt Brocc.«
»Bei seinen Forschungen hat doch der Ehrwürdige Dacan wahrscheinlich viel aufgeschrieben?«
»Das nehme ich an«, antwortete Rumann. »Ich habe oft gesehen, daß er Manuskripte und natürlich seine Wachstäfelchen bei sich trug. Ohne die letzteren verließ er nie sein Zimmer.«
»Warum«, sagte Fidelma und hielt inne, um ihrer Frage Nachdruck zu verleihen, »gab es dann keine Manuskripte oder beschriebene Täfelchen in seinem Zimmer?«
Bruder Rumann starrte sie verständnislos an.
»Gab es da wirklich keine?« fragte er verblüfft.
»Nein. Es liegen Täfelchen da, aber ihre Oberfläche wurde wieder geglättet, und das Pergament auf seinem Tisch ist leer.«
Der Verwalter zuckte erneut die Achseln. Das tat er offenbar häufig.
»Das überrascht mich. Vielleicht hat er seine Aufzeichnungen in unserer Bibliothek aufbewahrt. Ich verstehe allerdings nicht, was das mit seinem Tod zu tun hat.«
»Wußtest du, wonach Dacan hier forschte?« Fidelma machte sich nicht die Mühe, auf seine Frage einzugehen. »Wußte irgend jemand, weshalb er gerade nach Ros Ailithir gekommen war?«
»Es steht mir nicht zu, mich in die Angelegenheiten anderer einzumischen. Mir genügte es, daß Dacan mit einer Empfehlung des Königs von Cashel kam und mein Abt seinen Besuch billigte. Ich versuchte, wie andere auch, freundlich mit ihm zu verkehren, aber wie ich schon sagte, er war kein freundlicher Mensch. Um die Wahrheit zu gestehen, Schwester, es herrschte keine große Trauer in der Abtei, als Dacan in die Andere Welt einging.«
Fidelma beugte sich interessiert vor.
»Man hat mir berichtet, daß Dacan zwar als abweisend galt, aber vom Volk als ein Mann von großer Heiligkeit geliebt und verehrt wurde.«
Bruder Rumann verzog spöttisch die Lippen.
»Davon habe ich auch gehört, und vielleicht ist das auch so - in Laigin. Ich kann nur sagen, daß er hier in Ros Ailithir willkommen geheißen wurde, aber diesem Willkommen nicht mit der gleichen Wärme be-gegnete. Deshalb überließ man ihn lieber sich selbst. Ja, sogar unsere kleine Schwester Necht fürchtete sich vor ihm.«
»Wirklich? Warum das?«
»Vermutlich war er ein Mensch, dessen Kälte Ängste erweckte.«
»Ich dachte, der Ruf seiner Heiligkeit erstreckte sich über Laigin hinaus. An vielen Orten spricht man von ihm und seinem Bruder Noe wie von Colmcille, Brendan oder Enda.«
»Man kann nur über das sprechen, was man weiß, Schwester. Manchmal ist ein solcher Ruf nicht gerechtfertigt.«
»Sag mir, diese Abneigung gegen Dacan ...«
Bruder Rumann unterbrach sie kopfschüttelnd.
»Gleichgültigkeit war das, Schwester. Gleichgültigkeit, nicht Abneigung, denn es gab keinen Anlaß zur Abneigung.«
»Nun gut. Gleichgültigkeit, wenn du so willst«, sagte Fidelma. »Und du glaubst nicht, daß sie hinreichte, jemanden hier zu veranlassen, ihn zu töten?«
Die Augen des Verwalters verengten sich in seinem fleischigen Gesicht.
»Jemand von hier? Willst du damit andeuten, daß einer unserer Brüder in Ros Ailithir ihn umgebracht haben könnte?«
»Vielleicht auch einer seiner Schüler, dem seine Art nicht gefiel? So etwas hat es schon gegeben.«
»Na, davon habe ich noch nie gehört. Ein Schüler achtet seinen Lehrer.«
»Unter normalen Umständen«, pflichtete ihm Fidelma bei. »Doch wir untersuchen einen ungewöhnlichen Umstand. Ein Mord, und als das haben wir es festgestellt, ist ein höchst unnatürliches Verbrechen. Welchen Weg wir auch verfolgen, wir müssen davon ausgehen, daß jemand aus dieser Gemeinschaft die Tat begangen hat. Jemand aus dieser Gemeinschaft«, wiederholte sie mit Nachdruck.
Bruder Rumann sah sie mit ernstem Gesicht an.
»Ich kann nicht mehr sagen, als ich bereits gesagt habe. Alles, womit ich beauftragt war, und alles, was ich getan habe, war, die Umstände seines Todes zu untersuchen. Was sollte ich sonst noch tun? Ich besitze nicht die Fähigkeiten eines dalaigh.«
Fidelma breitete mit einer versöhnlichen Geste die Hände aus.
»Ich wollte keine Kritik damit andeuten, Bruder Rumann. Du hast dein Amt, und ich habe meins. Wir alle befinden uns in einer heiklen Lage, weil wir nicht nur dieses Verbrechen aufklären, sondern uns auch bemühen müssen, einen Krieg zu verhindern.«
Bruder Rumann holte tief Luft.
»Wenn du mich fragst, ich würde es Laigin zutrauen, die ganze Angelegenheit eingefädelt zu haben. Sie haben immer wieder an die Ratsversammlung des Großkönigs in Tara appelliert, ihnen Osraige zurückzugeben. Jedes Mal wurde entschieden, daß Osraige rechtmäßig zu Muman gehört. Und jetzt das.« Er reckte die Hand in die Luft.
Fidelma betrachtete den Verwalter interessiert.
»Wann genau bist du zu dieser Meinung gelangt, Bruder Rumann?« fragte sie vorsichtig.
»Ich stamme von den Corco Loigde, bin ein Mann aus Muman. Als ich hörte, welchen Sühnepreis der junge Fianamail von Laigin für den Mord an Dacan fordert, vermutete ich ein Komplott. Du hattest völlig recht.«
Fidelma blickte Rumann erstaunt an.
»Ich hatte recht? In welcher Hinsicht?«
»Daß ich einen Verdacht gegen den Kaufmann As-sid hätte fassen müssen. Wahrscheinlich war er der Mörder, und ich ließ ihn laufen!«
Sie schaute ihn einen Augenblick an und sagte: »Noch eins, Bruder. Woher weißt du, welche Forderung Laigin stellt?«
Rumann blinzelte. »Woher? Na, der Abt redet doch seit Tagen von nichts anderem.«
Nachdem Bruder Rumann gegangen war, saß Fidelma eine Weile schweigend da. Dann merkte sie, daß Cass auf eine Äußerung von ihr wartete. Sie wandte sich um und lächelte ihm müde zu.
»Rufe Schwester Necht, Cass.«
Gleich nach dem Ertönen der Handglocke trat die eifrige junge Schwester ein. Sie hatte offensichtlich den Fußboden des Gästehauses geschrubbt und war froh über die Unterbrechung.
»Ich habe gehört, du hast dich vor dem Ehrwürdigen Dacan gefürchtet«, begann Fidelma ohne Vorrede.
Für einen Augenblick schien das Blut aus Nechts Gesicht zu weichen. Sie erschauerte.
»Ja«, gestand sie ein.
»Warum?«
»Zu meinen Pflichten als Novizin in der Abtei gehört es, im Gästehaus zu dienen und die Wünsche der Gäste zu erfüllen. Der Ehrwürdige Dacan behandelte mich wie eine Leibeigene. Ich habe sogar Bruder Ru-mann gebeten, mich für die Zeit, in der sich Dacan hier aufhielt, aus dem Gästehaus zu versetzen.«
»Dann mußt du eine heftige Abneigung gegen ihn empfunden haben.«
Schwester Necht ließ den Kopf hängen.
»Es ist gegen den Glauben, aber es stimmt, ich mochte ihn nicht. Ich konnte ihn nicht leiden.«
»Du wurdest nicht abgelöst?«
Necht schüttelte den Kopf.
»Bruder Rumann meinte, ich müßte es als den Willen Gottes akzeptieren, und durch diese Prüfung würde ich für die Arbeit im Dienste des Herrn gestärkt werden.« »Du sagst das so, als ob du nicht recht daran glaubst«, bemerkte Fidelma sanft.
»Ich wurde nicht gestärkt. Meine Abneigung nahm nur noch zu. Es war eine schreckliche Zeit. Der Ehrwürdige Dacan war nie zufrieden damit, wie ich sein Zimmer in Ordnung brachte. Schließlich tat ich es überhaupt nicht mehr. Außerdem ließ er sich zu allen Tages- und Nachtzeiten etwas von mir bringen, ganz wie es ihm einfiel. Ich war eine Sklavin.«
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