Fidelma hockte auf der dicken Steinmauer des Klosters, die einen Umgang wie eine Brustwehr hatte. Sie schaute nachdenklich hinab auf die Bucht. Dort lagen ein paar Fischerboote, einige Küstensegler und ein hochseefähiges Schiff für den Handel mit Britannien oder Gallien. Sie hatte gehört, es sei ein fränkisches Handelsschiff. Doch ihr Interesse galt dem Kriegsschiff des Königs von Laigin, das bedrohlich nahe am Eingang zur Bucht ankerte.
Fidelma saß schon lange auf der Mauer und musterte das Schiff. Sie fragte sich, was Fianamail, der junge König von Laigin, mit dieser Geste erreichen wollte. Muman einschüchtern? Sie sah darin, daß er Osraige als Sühnepreis forderte, lediglich ein politisches Manöver zur Rückgewinnung verlorenen Landes, und zwar ein ziemlich unverfrorenes. Es würde doch wohl keiner glauben, daß der Tod des Ehrwürdigen Dacan, auch wenn er ein Vetter des Königs von Laigin war, die Rückgabe eines Gebietes unumgänglich machte, das über fünfhundert Jahre zu Cashel gehört hatte. Sollte Fianamail deswegen wirklich mit Krieg drohen?
Sie schaute hinab auf das flatternde Seidenbanner der Könige von Laigin, das stolz in der Seebrise wehte, die um den Mast strich. Auf dem Deck übten sich mehrere Krieger im Gebrauch ihrer Waffen, was wohl eher dazu angetan war, auf die Beobachter an Land Eindruck zu machen, als zur Ertüchtigung der Krieger aus Laigin.
Fidelma wünschte, sie hätte sich mehr mit dem Abschnitt des Buches von Acaill - des großen Gesetzeswerkes - befaßt, der sich speziell auf die muir-bretha, die Seerechte, bezog. Das Gesetz sagte sicherlich etwas dazu, ob eine solche Einschüchterung zulässig war. Sie hatte das Gefühl, daß das Bündel von Zweigen, das am Tor der Abtei hing, in diesem Zusammenhang etwas zu bedeuten hatte, aber sie wußte nicht, was. Sie überlegte, ob sich vielleicht in der Tech Screptra, der Bibliothek der Abtei, Gesetzbücher befanden, die sie dazu konsultieren könnte.
Vom Turm her erklang die Glocke, die die Terz verkündete.
Fidelma erhob sich und schritt den hölzernen Wehrgang entlang zurück zur Treppe, die auf den Innenhof von Ros Ailithir hinunterführte. Ein Stück weiter stand eine bekannte Gestalt auf der Mauer und blickte hinaus auf das Meer. Es war Schwester Eisten. Sie nahm Fidelma nicht wahr, so gebannt schaute sie auf die Bucht.
Fidelma trat unbemerkt neben sie.
»Ein sehr schöner Morgen, nicht wahr, Schwester«, grüßte sie.
Schwester Eisten schrak zusammen und wandte sich überrascht um. Sie blinzelte und neigte den Kopf.
»Schwester Fidelma. Ja, sehr schön.« Ihre Antwort war ohne Wärme.
»Wie geht es dir heute?«
»Mir geht es gut.«
Die knappen, einsilbigen Worte klangen wenig erfreut.
»Das ist schön. Geht es dem kleinen Jungen auch wieder gut?«
Schwester Eisten sah sie verwirrt an.
»Dem kleinen Jungen?«
»Ja. Hat er sich von seinem Alptraum erholt?« Als sie bemerkte, daß Schwester Eisten sie anscheinend immer noch nicht verstand, fügte sie hinzu: »Dem Jungen mit Namen Cosrach. Du hieltest ihn gestern nachmittag in den Armen.«
»Ach ... ja«, antwortete Schwester Eisten unsicher.
»Schwester Fidelma!«
Fidelma wandte sich um. Es war Schwester Necht, die sie gerufen hatte und nun die Treppe heraufeilte. Fidelma hatte das seltsame Gefühl, daß es ihr nicht recht war, Schwester Eisten und Fidelma zusammen stehen zu sehen.
»Bruder Rumann möchte dich sprechen, Schwester«, verkündete Schwester Necht. »Er erwartet dich dringend im Gästehaus.«
Fidelma zögerte und schaute Eisten an. »Bist du sicher, daß dir nichts fehlt?«
»Alles in Ordnung, danke«, antwortete Eisten ohne Überzeugungskraft.
»Wenn du eine Seelenfreundin brauchst, wende dich einfach an mich.«
Im Gegensatz zur römischen Kirche, in der jeder seine Sünden einem Priester zu beichten hatte, wies die irische Kirche jeder Person einen anamchara oder Seelenfreund zu. Er oder sie nahm nicht eine Beichte entgegen, sondern war eher ein Vertrauter, ein geistlicher Berater, der nach den Gebräuchen des Glaubens in den fünf Königreichen handelte. Fidelmas Seelenfreundin seit Erreichen des Alters der Wahl war Lia-din von den Ui Drona, ihre Freundin seit den Kindertagen. Doch es war nicht zwangsläufig so, daß der Seelenfreund vom gleichen Geschlecht sein mußte. Colmcille und andere Glaubensführer hatten Seelenfreunde vom anderen Geschlecht gewählt.
Eisten schüttelte heftig den Kopf.
»Ich habe schon eine Seelenfreundin in der Abtei«, wies sie Fidelma zurück.
Fidelma seufzte und folgte zögernd Schwester Necht. Natürlich ging es Eisten nicht gut. Etwas ängstigte sie weiterhin. Fidelma wollte schon die Treppe hinabsteigen, als Schwester Eistens Stimme sie zurückhielt.
»Sag mir, Schwester .«
Fidelma wandte sich fragend um. Eisten starrte noch immer düster aufs Meer hinaus.
»Sag mir, Schwester, kann eine Seelenfreundin das Vertrauen brechen, das man ihr geschenkt hat?«
»Wenn sie das tut, dann, meine ich, kann sie keine Seelenfreundin mehr sein«, antwortete Fidelma sofort. »Aber das hängt von den Umständen ab.«
»Schwester!« drängte Necht am Fuße der Treppe.
»Reden wir später darüber«, schlug Fidelma vor. Eisten schwieg, und Fidelma ging langsam die Treppe hinunter zu Necht.
In dem Zimmer, das Fidelma für ihre Befragungen angewiesen worden war, wartete ungeduldig der Verwalter der Abtei.
Fidelma ließ sich auf dem Stuhl gegenüber Bruder Rumann nieder und bemerkte, daß Cass schon seinen Platz in der Zimmerecke eingenommen hatte. Fidelma sah Schwester Necht an. Sie hatte lange überlegt, ob es klug sei, sie bei sämtlichen Befragungen dabei sein zu lassen. Vielleicht konnte man sich darauf verlassen, daß sie alles für sich behielt, vielleicht aber auch nicht. Schließlich hatte Fidelma entschieden, es sei besser, sie nicht der Versuchung auszusetzen.
»Ich benötige deine Dienste für eine Weile nicht«, erklärte sie Necht, die sichtlich darüber enttäuscht war. »Sicherlich hast du im Gästehaus noch andere Pflichten zu erfüllen.«
Bruder Rumann war sehr einverstanden.
»Das hat sie wirklich. Die Zimmer müssen gereinigt und in Ordnung gebracht werden.«
Als Schwester Necht unwillig gegangen war, wandte sich Fidelma wieder dem Verwalter zu.
»Wie lange bist du schon Verwalter der Abtei, Bruder Rumann?« begann sie.
Sein feistes Gesicht verzog sich.
»Seit zwei Jahren, Schwester. Warum?«
»Verzeih die Frage«, meinte Fidelma höflich. »Ich möchte soviel über dich erfahren wie möglich.«
»Dann laß dir sagen, daß ich seit dem Erreichen des Alters der Wahl in der Abtei bin - und das war vor dreißig Jahren.«
In gekränktem Ton umriß er kurz seinen Lebensweg, als habe sie kein Recht, danach zu fragen.
»Dann bist du also siebenundvierzig Jahre alt und seit zwei Jahren Verwalter?« stellte Fidelma zusammenfassend fest.
»Genau.«
»Sicher weißt du so gut wie alles, was es über Ros Ailithir zu wissen gibt?«
»Alles«, antwortete Rumann selbstzufrieden.
»Das ist schön.«
Rumann runzelte leicht die Stirn und fragte sich, ob sie sich über ihn lustig machte.
»Was willst du wissen?« erkundigte er sich.
»Abt Brocc beauftragte dich mit der Untersuchung des Todes von Dacan. Was hast du herausgefunden?«
»Daß er von einem Unbekannten ermordet wurde. Das war alles«, erwiderte der Verwalter.
»Fangen wir bei dem Zeitpunkt an, als der Abt dir mitteilte, daß Dacan tot ist.«
»Das teilte mir nicht der Abt mit, sondern Bruder Conghus.«
»Wann war das?«
»Kurz nachdem er den Abt von Dacans Tod unterrichtet hatte. Ich traf ihn, als er zu Bruder Tola eilte, unserem Unterarzt. Tola untersuchte die Leiche.«
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