»Du sagtest, sie haben keinen Brehon? Haben sie wenigstens einen Priester?«
»Ja, Pater Gorman wohnt im rath. Dort gibt es eine Kapelle, die Cill Uird genannt wird, die Kirche des Rituals. Er lebt seit zwanzig Jahren unter den Leuten von Araglin. Ausgebildet wurde er hier in Lios Mhor.
Er wird dir sicher wertvolle Hilfe leisten können, obgleich er gewisse dogmatische Ansichten über die Verbreitung des Glaubens hat, über die du wahrscheinlich anderer Ansicht bist.«
»Wie das?« erkundigte sich Fidelma interessiert.
Cathal antwortete mit einem entwaffnenden Lächeln.
»Ich meine, es ist besser, wenn du das selbst herausfindest, damit ich dich nicht beeinflusse.«
»Ich vermute, er befürwortet die römischen Gebräuche«, seufzte Fidelma.
Abt Cathal verzog das Gesicht.
»Du besitzt viel Scharfblick, Schwester. Ja, Pater Gorman gibt den römischen Sitten den Vorzug vor unseren einheimischen. Er erhält dabei einige Unterstützung, denn er hat in Ard Mor eine römische Kapelle erbaut, die durch ihre Pracht Berühmtheit erlangt. Pater Gorman scheint über reiche Anhänger zu verfügen.«
»Dennoch wohnt er immer noch an einem so einsamen Ort wie Cill Uird«, bemerkte Fidelma. »Das ist eigenartig.«
»Suche nicht nach Geheimnissen, die es gar nicht gibt«, tadelte sie Abt Cathal, doch mit einem Lächeln. »Pater Gorman stammt aus Araglin, aber er meint, er müsse auch seine Interpretation des Glaubens verbreiten.«
Beccan betrachtete amüsiert ihre trübsinnige Miene. Er schüttelte neckend den Kopf.
»Dein Problem, Fidelma von Kildare, besteht darin, daß du zu gut bist in deinem Beruf. Deine Weisheit ist schon sprichwörtlich geworden in allen fünf Königreichen von Éireann.«
»Die Vorstellung gefällt mir überhaupt nicht«, brummte Fidelma. »Ich diene dem Gesetz nicht zu meinem persönlichen Ruhm. Ich diene ihm, um den Menschen Gerechtigkeit zu bringen.«
»Und dadurch, daß du das tust, Fidelma, wirst du bekannt als ein gerechter Mensch mit der Fähigkeit, umstrittene Probleme zu lösen. Aus deinen Erfolgen erwächst dein Ruf. Damit mußt du dich abfinden. Doch jetzt ...«
Er wandte sich entschlossen zu Abt Cathal um.
»Muß ich mich auf den Weg machen, wenn ich vor Tagesende noch nach Ard Mor kommen will. Vive valeque, Cathal von Lios Mhor.«
»Vive, vale, Beccan.«
Mit einem raschen Lächeln für Fidelma und einem Nicken zu Eadulf hin verschwand er und hatte den Raum verlassen, fast ehe sie es wahrnahmen.
Fidelma wandte sich neugierig an Bruder Eadulf.
»Begleitest du Beccan nicht? Wohin gehst du von hier, Eadulf?«
Der dunkeläugige Mönch, der viele ihrer Abenteuer mit ihr bestanden hatte, blieb ungerührt.
»Ich dachte, ich gehe mit dir nach Araglin, das heißt, wenn du nichts dagegen hast. Ich würde gern diesen Teil des Landes kennenlernen, ich habe ihn noch nie gesehen.«
Fidelmas Lippen verzogen sich zu einem schelmischen Lächeln bei dieser diplomatischen Antwort Ea-dulfs, die offenkundig so formuliert war, um jeden neugierigen Gedanken abzuwenden, den der Abt hegen mochte.
Eadulf war durch Erbfolge in das Amt eines gerefa oder Friedensrichters bei seinem Volke, den Angelsachsen, gelangt. Der irische Missionar Fursa hatte ihn zum Christentum bekehrt und zur Ausbildung an die großen Hochschulen in Eireann geschickt. Zuerst hatte er am Kloster Durrow studiert und dann die berühmte medizinische Hochschule in Tuaim Brecain besucht. Danach war Eadulf von der Kirche Colmcil-les zur Kirche von Rom übergewechselt. Er wurde der Sekretär Theodores, des von Rom ernannten neuen Erzbischofs von Canterbury. Theodore schickte ihn wieder nach Irland als seinen Gesandten bei Fidelmas Bruder Colgü von Cashel. Eadulf war in den fünf Königreichen völlig zu Hause und sprach fließend Irisch.
»Du kannst mich gern begleiten, Eadulf«, antwortete sie leise und fügte hinzu: »Hast du ein Pferd?«
»Dein Bruder hat mir freundlicherweise eines für die Reise zur Verfügung gestellt.«
Normalerweise ritten Mönche und Nonnen nicht, wenn sie reisten. Daß Fidelma ein Pferd besaß, hatte seine Ursache in ihrem Rang und ihrem Amt als Bre-hon bei Gericht.
»Ausgezeichnet. Vielleicht können wir sogleich unsere Reise antreten. Wir haben noch mehrere Stunden Tageslicht.«
»Wäre es nicht besser, bis morgen früh zu warten?« meinte Abt Cathal. »Vor Einbruch der Nacht kommt ihr nicht mehr bis Araglin.«
»Irgendwo am Wege wird es schon eine Herberge geben«, antwortete Fidelma mit sicherer Überzeugung. »Wenn zu befürchten ist, daß Ebers Leute vorschnell etwas gegen den Beschuldigten unternehmen, ohne sich an das Gesetz zu halten, dann sollte ich mich so schnell wie möglich nach Araglin begeben.«
Cathal stimmte zögernd zu.
»Wie du meinst, Fidelma. Doch in den Bergen ist es nicht gut, ohne Obdach von der Nacht überrascht zu werden.« Dem Abt war aber wohl bewußt, daß er nicht mit einer einfachen Nonne sprach, sondern mit der Schwester seines Königs. Was sie beschloß, das konnte er mit seiner Machtbefugnis nicht ändern. »Ich werde einen Bruder anweisen, euch mit Essen und Trinken für die Reise zu versorgen und eure Pferde tränken und satteln zu lassen.«
Abt Cathal erhob sich und verließ das Zimmer.
Als sich die Tür hinter ihm schloß, verwandelte sich Fidelmas ernstes Gesicht völlig. Sie wandte sich um und ergriff die Hände des angelsächsischen Mönchs. Überschäumende Freude funkelte in ihren grünblauen Augen. Diese natürliche Fröhlichkeit in ihrem frischen, hübschen Gesicht hätte selbst den düstersten Einsiedler verwundert fragen lassen, weshalb eine so attraktive junge Frau sich für das Klosterleben entschieden hatte. Ihre hohe, wohlgebildete Gestalt schien eher nach einer aktiven und freudigen Rolle im
Leben zu verlangen als nach dem eng umgrenzten Bezirk einer religiösen Gemeinschaft.
»Eadulf! Ich hatte doch gehört, du wärst auf dem Rückweg in das Land der Angelsachsen?«
Eadulfs Miene hatte sich zu einem verlegenen Lächeln verzogen angesichts ihrer Begeisterung, ihn wiederzusehen.
»Vorläufig noch nicht. Als ich hörte, daß Beccan sich auf die Suche nach dir machte, um dich mit diesem Auftrag nach Araglin zu schicken, sagte ich zu deinem Bruder, ich würde gern etwas mehr von diesem Land sehen und seine Rechtspflege beobachten. Das liefert mir einen Vorwand, noch etwas länger hier zu bleiben.«
»Es ist schön, daß du gekommen bist. Ehrlich gesagt, ich hab mich hier in Lios Mhor ziemlich gelangweilt. Es wird mir guttun, in die Berge zu gehen, in ihre klare Luft, und jemanden zu haben, mit dem ich über dies und jenes reden kann ...«
Eadulf lachte. Es war ein angenehmes, freundliches Lachen.
»Ich weiß schon, was für eine Art von Reden du meinst«, antwortete er spitz.
Nun war es an ihr, zu lachen. Ihr hatten die Diskussionen gefehlt, die sie mit Eadulf führte. Sie hatte es vermißt, daß sie ihn mit ihren gegensätzlichen Meinungen und Philosophien necken konnte und er gutmütig jeden Köder schluckte, den sie ihm hinhielt. Sie stritten sich heftig, aber es gab keine Feindschaft zwischen ihnen. Beide lernten daraus, daß sie gegenseitig ihre Interpretationen der Moralgrundsätze der Gründerväter ihres Glaubens prüften und leidenschaftlich ihre Vorstellungen vom Leben vertraten.
Eadulf wurde plötzlich ernst, als er ihr in das freudige Gesicht blickte.
»Mir haben unsere Gespräche auch gefehlt«, sagte er leise.
Sie schauten einander schweigend an, und dann ging plötzlich die Tür auf, und Abt Cathal kam herein. Verlegen traten sie auseinander.
»Alles klar. Die Verpflegung wird bereitgestellt. Ihr habt übrigens Glück. Wie ich höre, ist ein Bauer aus Araglin hier und will sich gerade auf den Rückweg machen. Er kann euch als Führer dienen.«
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