Fidelma beugte sich vor. Ihre Stimme gewann an Schärfe.
»Heißt das, er ist den ganzen Vormittag nicht hier gewesen?«
Der Mönch schüttelte verwundert den Kopf. »Ich warte auf ihn, denn gestern abend haben wir besprochen, daß wir Schutz suchen sollten, besonders nach dem Überfall.«
»Schutz bei wem?«
»Bardan wollte zum Fürsten von Cnoc Äine gehen und ihm die Geschichte erzählen. Wir wußten, daß Finguine der Abtei freundlich gesonnen und ein treu ergebener Vetter des Königs ist. Wir wollten ihm die Sache vorstellen, und Finguine sollte dann entscheiden, ob wir dich in Kenntnis setzen. Als ihr jetzt kamt, dachte ich, Finguine oder Bardan hätten euch geschickt ...« Beunruhigt brach er ab. »Wie habt ihr mich denn gefunden?« forschte er.
»Mit Glück«, brummte Eadulf, noch immer verwirrt von der ganzen Angelegenheit.
»Warum habt ihr mir nicht vertraut und mir nicht gesagt, daß du in Sicherheit bist, sobald ich in die Ab-tei kam?« grollte Fidelma. Sie ärgerte sich über den Zeitverlust durch diese Geheimniskrämerei.
Bruder Mochta lächelte dünn und schmerzlich. Er verlagerte das linke Bein, um die Wunde zu schonen.
»Wir wußten nicht, ob wir dir trauen konnten, Schwester. Wir wußten nicht, wer unsere Freunde und wer unsere Feinde sind.«
»Ich bin die Schwester des Königs von Cashel«, wiederholte Fidelma.
»Aber eine Schwester, die lange außer Landes war und ...« Bruder Mochta blickte auf Eadulf. »Du kamst in Begleitung eines Mönchs der römischen Kirche.«
Eadulf errötete vor Zorn. »Macht einen das verdächtig in diesem Land?«
»Es ist eine Tatsache, daß die Befürworter der römischen Ordnung denen, die wie wir den Regeln unserer Väter folgen, nicht immer wohlgesonnen sind.«
»Habt ihr, du oder Bardan, wirklich geglaubt, ich könnte meinen Bruder und dieses Land verraten?« unterbrach Fidelma.
»Blut verbindet nicht zu gemeinsamen Zielen«, erwiderte Mochta ruhig. »Das habe ich zu meinem Schaden erfahren.«
»Vielleicht hast du recht. Aber warum habt ihr euch nicht Abt Segdae anvertraut, der doch euer natürlicher Beistand in einer Notlage gewesen wäre.«
»Der Pater Abt ist ein ehrenhafter Mann. Er hätte meinen Plan, die heiligen Reliquien zu verbergen, nicht gutgeheißen. Er hätte sie in der Kapelle behalten im Glauben, dort wären sie sicher. Aber was dann? Das hätte geradezu zu einem Angriff auf die Abtei eingeladen. Was meint ihr, warum die Räuber nicht die Abtei selbst überfallen haben? Weil sie wußten, daß die heiligen Reliquien nicht mehr da waren.«
»Du weißt, wer die Angreifer waren?« forschte Fi-delma.
»Ich habe eine starke Vermutung.«
»Na gut. Erzähl uns deine Geschichte von Anfang an«, forderte ihn Fidelma auf. »Dein Bruder Baoill war beteiligt an einer Verschwörung, das Königshaus von Cashel zu stürzen. Wie kam es dazu?«
Bruder Mochta legte sich zurück und sammelte seine Gedanken.
»Am besten fange ich ganz von vorn an. Ich wurde im Gebiet des Clans Brasil geboren .«
»Das wissen wir bereits«, unterbrach ihn Eadulf. Fidelmas Blick hieß ihn schweigen.
»Sprich weiter, Mochta«, sagte sie.
»Ich stamme also aus dem Norden. Mein Bruder und ich waren Zwillinge, wie ihr wißt. Wir waren uns so ähnlich, daß uns niemand auseinanderhalten konnte, zuweilen nicht mal unsere Mutter. Wir wuchsen wild und ungezügelt auf. Als wir uns dem Alter der Wahl näherten, bezahlte unser Vater einen wandernden Tätowierer dafür, daß er uns ungleiche Male auf die Unterarme zeichnete, damit wir zu unterscheiden seien. Wir bestachen den Tätowierer, und er brachte bei jedem von uns genau denselben Raubvogel auf dem Unterarm an .«
»Einen Bussard«, lächelte Fidelma. »Wie kamt ihr gerade auf diesen Vogel?«
»Er lebt nur an unserer wilden Nordostküste, und dem Tätowierer, der auch von dort stammte, war er wohlvertraut. Einen anderen Grund gab es nicht.«
»Ich verstehe. Sprich weiter.«
»Unser Vater war wütend auf uns, als er den Streich entdeckte. Unser jugendlicher Übermut und unsere Aufsässigkeit störten ihn schon seit einiger Zeit. Als wir das Alter der Wahl erreichten, sagte er uns, daß wir mit unserem Leben anfangen könnten, was wir wollten, vorausgesetzt, wir gingen beide aus dem Hause fort und fielen ihm nicht mehr zur Last.«
»Also gingt ihr ins Kloster«, ergänzte Eadulf, als der Mönch nachdenklich schwieg. »Ein merkwürdiges Leben für so mutwillige junge Männer. Gab es keine Berufe, für die ihr besser geeignet wart?«
»Unser Mutwille wurde spürbar gedämpft, als sich die Tür des Vaterhauses hinter uns schloß, mein angelsächsischer Bruder. Irgendwie kamen wir beide zu dem Entschluß, in die Abtei Armagh einzutreten, die auf dem Land unseres Clans steht, wo der heilige Patrick .«
»Wir kennen die Geschichte von Armagh«, versicherte ihm Fidelma kurz.
»Nun, dort wurden wir beide zum scriptor ausgebildet. Dann trennten sich unsere Wege. Mein Bruder entschied sich, der römischen Ordnung zu folgen, die in Armagh bevorzugt wird. Ich fand unsere traditionellen Regeln besser, lehnte mich gegen Armagh auf und ließ mir die Tonsur des heiligen Johannes schnei-den. Meine Schreibkunst genoß einen guten Ruf, und so verabschiedete ich mich von meinem Bruder und ging eine Weile auf Wanderschaft. Ich diente in mehreren Abteien und sogar an Fürstenhöfen, wo Schreiber gebraucht wurden. Auf diese Weise kam ich schließlich in dieses Land und trat der Gemeinschaft von Imleach bei. Das war vor zehn Jahren.«
»Bist du in dieser Zeit mit deinem Bruder in Verbindung geblieben?«
Mochta schüttelte den Kopf. »Nur ein oder zweimal habe ich von ihm gehört. Durch ihn erfuhr ich, daß unsere Eltern gestorben waren. Wir hatten einen älteren Bruder, der den Bauernhof übernahm, aber wir waren uns alle fremd geworden.«
»Und du hast deinen Bruder in jüngster Zeit wiedergesehen?«
»Ja. Baoill hing Rom nun anscheinend noch fanatischer an, was auch verständlich ist, denn Ultan, der Comarb von Patrick, sein Abt und Bischof von Armagh, strebt die Ausdehnung dieser Ordnung auf alle fünf Königreiche an.«
»Ich kenne Ultans Ehrgeiz, alle Kirchen der fünf Königreiche nach der Art Roms zu vereinigen, mit einem zentralen Oberhirten an der Spitze«, bestätigte Fidelma. »Aber das geht hier nicht, es widerspricht unserer Tradition. Ich vermute, du warst anderer Meinung als dein Bruder?«
»Du sagst es, Schwester. Ich glaube an die Traditionen unseres Volkes und nicht an diese neuen Ideen aus fremden Ländern.«
»Wie kam es, daß du deinem Bruder wieder begegnet bist?«
»Wie du vielleicht weißt, war ich vom scriptor zum Bewahrer der heiligen Reliquien Ailbes aufgestiegen. Ich brauche dir wohl nicht zu erklären, was diese Reliquien für dieses Königreich bedeuten?«
»Nein, das brauchst du wahrlich nicht«, meinte Fi-delma.
»Nun, vor ein oder zwei Wochen kam ein Mann in die Abtei und fragte nach mir. Er sah aus wie ein Berufskrieger. Groß, mit langem blondem Haar und ...«
»Mit einem Bogen bewaffnet?« fiel Eadulf ein. »Ein Bogenschütze?«
Mochta nickte. »Ja. Er sah aus wie ein berufsmäßiger Bogenschütze. Er sagte, er brächte mir eine Botschaft von meinem Bruder Baoill, der sich mit mir treffen wolle. Er betonte, daß aus verschiedenen Gründen, die er nicht näher erläuterte, Baoill sich mit mir allein und insgeheim treffen wolle. Der Bogenschütze wohnte in Creds Herberge. Also ging ich hin. Zum Glück sah mich niemand dort, denn dem Pater Abt war dieser Ort zuwider. Sein Zorn wäre groß gewesen, wenn er erfahren hätte, daß ich dort jemanden besuchte. Cred, die Herbergswirtin, sagte mir, der Bogenschütze erwarte mich in einem Zimmer im oberen Stockwerk. Dort fand ich auch meinen Bruder Baoill. Nachdem wir uns begrüßt hatten, wie es zwei Brüder tun, die sich lange nicht gesehen haben, redeten wir über Politik - hauptsächlich über Kirchenpolitik. Dabei wurden mir seine Ansichten deutlich. So bald er meine kannte, mied er plötzlich dieses Thema. Er war ein schlauer Bursche, mein Bruder. Er lenkte das Gespräch in eine andere Richtung, indem er sagte, er habe gehört, daß ich einer der Schreiber sei, die an den >Annalen von Imleach< arbeiteten. Das bejahte ich. Er fragte mich, für welches Jahr ich die Gründung von Armagh ansetzte. Ich erklärte, daß ich sie in das Jahr unseres Herrn vierhundertvierundvierzig datierte. Weiter fragte er, für wann ich das Hinscheiden des heiligen Patrick verzeichnet habe. Ich nannte das Jahr unseres Herrn vierhundertundzweiundfünfzig. Diese Daten waren nicht strittig.
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