»Eadulf«, kam Fidelmas Stimme von irgendwoher, »streck die Hand aus.«
Er tat es. Etwas streifte sie, dann spürte er den warmen Druck ihrer Hand.
»Gut. Wir dürfen uns nicht loslassen. Ich gehe langsam voran.«
»Wie willst du sehen, wohin du gehst?«
»Ich fühle es mit einer Hand. Ich kann die Decke erreichen und mich vorwärtstasten.«
Vorsichtig schoben sie sich durch die Schwärze weiter.
»Na, eins ist sicher«, meinte Fidelma fröhlich.
»Was nämlich?«
»Zurück können wir auf diesem Wege nicht - es sei denn, wir finden am anderen Ende eine Laterne.«
Es war ein schwacher Versuch, den Humor zu bewahren, und beide schwiegen wieder. Ein oder zweimal schrammte Fidelma mit dem Arm an der Felswand entlang, und Eadulf stolperte über Gesteinsbrocken. Sie kamen langsam voran, immer noch allmählich aufwärts. Dann blieb Fidelma stehen.
»Was ist?« fragte Eadulf.
»Siehst du es nicht?« flüsterte sie erregt.
Eadulf kniff die Augen zusammen und erkannte es dann auch.
»Da vorn wird es hell«, bestätigte sie. »Es ist Tageslicht. Aber da ist noch etwas anderes.«
Sie gingen ein Stückchen weiter, um eine Biegung des Ganges herum. Das Licht wurde heller, ein düsteres graues Licht, das in den Tunnel drang. In der Stille vernahmen sie das Knistern eines Feuers.
Fidelma brachte den Kopf dicht an Eadulfs Ohr. Er spürte, wie ihre Lippen seine Wange berührten.
»Keinen Ton«, flüsterte sie. »In der Höhle vor uns ist jemand.«
Fast lautlos bewegte sie sich vorwärts. Nach einer Weile wurde das Licht stärker, sie blieb stehen und ließ seine Hand los, denn jetzt konnten sie einander deutlich sehen. Vor ihnen öffnete sich eine ziemlich große Höhle, deren Eingang von einer Holzbarriere versperrt wurde, über der man ein Stück blauen Himmel erblickte. Sonnenlicht erfüllte die Höhle.
Sie war groß und trocken, nur an einer Seite lief ein kleiner Bach entlang. In der Mitte prasselte ein Feuer. Verschiedene Gegenstände lagen verstreut herum. Nahe dem Feuer ruhte auf einem Strohsack ein älterer, fülliger Mann in Mönchskleidung. Sein linker Arm und sein linker Fuß waren verbunden. Ein Stab neben ihm diente ihm offensichtlich als Krücke. Weiter befand sich niemand in der Höhle.
Mit wachsendem Erstaunen betrachteten Eadulf und Fidelma den Mann.
Eadulf betrat als erster die Höhle, und der Mann fuhr auf, stützte sich auf einen Ellbogen und langte nach dem Stab, als wolle er sich damit verteidigen. Als er Eadulfs Kutte erkannte, hielt er inne.
»Wer seid ihr?« rief er mit vor Furcht brüchiger Stimme.
Verblüfft blieb Eadulf stehen.
Fidelma schob sich an Eadulf vorbei und fand mühsam die Sprache wieder. »Hab keine Angst, Bruder Mochta. Ich bin Fidelma von Cashel.«
Der rundliche Mönch sank mit einem Seufzer auf seinen Strohsack zurück.
Eadulf blickte immer noch mit furchtsamem Staunen auf die liegende Gestalt. »Aber du bist doch tot!« entfuhr es ihm.
Der rundgesichtige Mann stützte sich wieder auf einen Ellbogen. In seinem Gesicht spiegelten sich Schmerzen, aber auch Belustigung wider.
»Da bin ich anderer Meinung, mein angelsächsischer Bruder«, entgegnete er. »Aber wenn du es beweisen kannst, unterwerfe ich mich deinem Urteil. Bei Gott, ich fühle mich dem Tode so nahe, daß ich mich nicht mit dir streiten möchte.«
Eadulf trat vor und schaute ihm prüfend ins Gesicht.
Es gab keinen Zweifel. Der Mann, der auf einen Ellbogen gestützt vor ihm lag und ihn angrinste, war derselbe mondgesichtige Mönch, den er zuletzt tot in der Leichenkammer von Cashel gesehen hatte. Es war genau derselbe Mann, bis hin zu der Vogeltätowierung, die Eadulf jetzt auf dem linken Unterarm erkannte.
Fidelma setzte sich neben Mochta auf den Strohsack. Sie schien nicht übermäßig überrascht vom Anblick des rundgesichtigen Mönchs, den sie allem Anschein nach vor ein paar Tagen als Leiche bei Bruder Con-chobar in Cashel gesehen hatte.
»Wie schlimm sind deine Wunden, Bruder Moch-ta?« erkundigte sie sich besorgt.
»Sie sind schmerzhaft, aber man hat mir gesagt, daß sie heilen«, antwortete er.
»Das hat dir Bruder Bardan gesagt, nicht wahr?«
Er bestätigte es mit einer Geste.
Eadulf konnte den Blick nicht von dem Mann wenden, dessen Züge nicht im geringsten von denen des toten Attentäters abwichen, ausgenommen ... Eadulf konnte es nicht ergründen. Dann war da noch etwas. Dieser hier trug die irische Tonsur des heiligen Johannes, die Stirn geschoren bis zu einer Linie von Ohr zu Ohr. Doch gab es noch einen anderen Unterschied.
»Ich nehme an, Bruder Bardan hat deine Wunden behandelt, seit du dich hier versteckt hältst? Du hast niemandem getraut?«
»Es ist schwer, jemandem zu vertrauen, besonders wenn du von einem betrogen worden bist, den du dein ganzes Leben lang gekannt hast, von deinem eigenen Fleisch und Blut, mit dem du aufgewachsen bist. Wenn dich deine Verwandten betrügen, wem kannst du dann noch trauen?«
Fidelma winkte Eadulf, er möge sich setzen. Er tat es widerwillig, ohne die Augen von dem fülligen Mönch zu lassen.
»Du sprichst von deinem Zwillingsbruder, nicht wahr?« fragte Fidelma.
»Natürlich.«
»Zwillingsbruder?« wiederholte Eadulf begriffsstutzig.
Bruder Mochta nickte traurig. »Mein Zwillingsbruder! Du brauchst nicht drum herumzureden, Schwester. Bruder Bardan hat mir berichtet, wie er in Cashel getötet wurde. Ja, es war mein Zwillingsbruder Ba-oill.«
»Der Verdacht war mir schon vor einer Weile gekommen«, sagte Fidelma. »Ein Mensch kann nicht an zwei Orten zugleich sein oder zwei verschiedene Tonsuren tragen. Die Lösung des Rätsels konnte nur darin bestehen, daß es sich um zwei Personen handelt. Wie können sie dann so gleich aussehen? Nur wenn sie eng verwandt sind, Geschwister oder gar Zwillinge.«
Bruder Mochta nickte traurig. »Ja, wir sahen uns täuschend ähnlich«, bestätigte er. »Wie habt ihr mich hier gefunden? Hat euch Bardan gesagt, wo ich bin? Wir sprachen gestern darüber, nach dem Überfall. Er begann zu glauben, daß wir euch trauen könnten. Doch dann sah er dich im Gespräch mit Solam, dem Anwalt von den Ui Fidgente. Auch Solam möchte gern wissen, wo ich mich aufhalte.«
»Hat Bardan deshalb die Überreste einer unbekannten Leiche als von dir stammend identifiziert?« fragte Fidelma.
»Ich fand den Einfall nicht gut, aber Bardan meinte, es wäre das einzige Mittel, Solam davon abzubringen, weiter nach mir zu suchen. Er wollte Zeit gewinnen, damit wir uns absprechen könnten, was zu tun sei.«
»Du erzählst uns wohl am besten, wie du in diese Lage geraten bist«, forderte ihn Fidelma auf.
Bruder Mochta sah sie nachdenklich an. »Kann ich dir vertrauen?«
»Die Frage kann ich dir nicht beantworten«, erwiderte Fidelma. »Ich kann dir nur sagen, daß ich Colgüs Schwester bin und meine Treue Muman gehört. Ich bin dalaigh und habe geschworen, das Recht zu wahren und über alles andere zu stellen. Wenn das nicht ausreicht, mir zu vertrauen, kann ich nichts weiter hinzufügen.«
Bruder Mochta schwieg und schien mit einer Entscheidung zu ringen.
»Wieviel weißt du von der Geschichte?« fragte er schließlich.
Fidelma zuckte die Achseln. »Sehr wenig. Ich weiß, daß du dein Verschwinden vorgetäuscht und die meisten der heiligen Reliquien mitgenommen hast. Ich nehme an, dein Bruder hat eine davon stehlen können, nämlich Ailbes Kruzifix, und bei dem Kampf wurdest du verletzt. Du trautest niemandem und verstecktest dich hier, und Bruder Bardan versorgte dich mit Nahrung und Heilmitteln. Wo ist er jetzt eigentlich?«
Bruder Mochta war ratlos.
»Bruder Bardan? Ich habe ihn seit gestern abend nicht gesehen. Hat er euch denn nicht hergeschickt?«
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