Weil er um sein eigenes Leben fürchtete und weil es seine Pflicht war, beschloß Magnus, Anzeige gegen diesen Mann zu erstatten. In der Zwischenzeit konnte Roscius entkommen und nach Rom flüchten, zurück zum Tatort seines Verbrechens; aber das Auge des Gesetzes erblickte ihn auch im Herzen Roms, und selbst in einer Stadt von einer Million Menschen konnte er sich nicht verstecken.
Sextus Roscius wurde aufgespürt. Normalerweise gibt man einem römischen Bürger, ungeachtet welch verabscheuungswürdigen Verbrechens er auch angeklagt sein mag, die Möglichkeit, seine Bürgerrechte niederzulegen und ins Exil zu fliehen, anstatt sich einem Prozeß zu stellen, wenn das seine Wahl ist. Aber das Verbrechen, das dieser Mann begangen hat, war so schwer, daß man ihn unter Arrest stellte, damit er seinem Prozeß und seiner Bestrafung nicht entgehen konnte. Und warum? Weil das Verbrechen, das er begangen hat, weit über das Vergehen eines Sterblichen gegen einen anderen hinausgeht. Es ist ein Schlag gegen die Grundfesten dieser Republik und die Prinzipien, die sie groß gemacht haben. Es ist ein Anschlag auf den Vorrang der Vaterschaft. Es ist eine Beleidigung der Götter selbst, und vor allem eine Beleidigung Jupiters, des Vaters aller Götter.
Nein, der Staat kann nicht das geringste Risiko eingehen, daß ein solch abscheulicher Verbrecher flieht, genausowenig wie ihr, werte Richter, das Risiko eingehen könnt, ihn unbestraft zu lassen. Denn wenn ihr das tut, bedenkt die Strafe der Götter, die diesen Staat mit Sicherheit heimsuchen wird, um unser Versagen zu ahnden, ein derartiges Scheusal vom Antlitz der Erde zu tilgen. Denkt an die Städte, deren Straßen von Blut überflutet waren oder deren Bevölkerung elend an Hunger und Durst zugrunde gegangen ist, weil sie törichterweise einem gottlosen Mann Schutz vor dem Zorn der Götter gewährt haben. Ihr dürft nicht zulassen, daß dasselbe in Rom geschieht.«
Erucius machte eine Pause, um sich die Stirn abzuwischen. Alle Augen auf dem Platz waren mit geradezu traumwandlerischer Konzentration auf ihn gerichtet. Cicero und seine Anwaltskollegen rollten nicht mehr mit den Augen oder spotteten hinter vorgehaltener Hand über Erucius; sie sahen vielmehr recht besorgt aus. Sextus Roscius war zu Stein erstarrt.
Erucius faßte zusammen. »Ich habe von dem Frevel gegen den göttlichen Jupiter gesprochen, den dieser Mann durch sein unsagbar abscheuliches Verbrechen verübt hat. Es ist auch, wenn ihr mir diese kleine Abschweifung erlaubt, ein Frevel gegen den Vater unserer wiederhergestellten Republik!«
An dieser Stelle breitete Erucius mit großer Geste die Arme aus, als wolle er das Reiterstandbild Sullas anflehen, der ihm, so wirkte es von meinem Platz aus, ein herablassendes Lächeln gönnte. »Ich muß seinen Namen nicht aussprechen, weil sein Auge hier und jetzt auf uns allen ruht. Ja, sein wachsamer Blick liegt auf allem, was wir an diesem Ort tun in unserer pflichtgemäßen Rolle als Bürger, Richter, Anwälte und Ankläger. Lucius Cornelius Sulla, der ewig Glückliche, hat die Gerichtsbarkeit wiederhergestellt. Sulla hat die Fackel der römischen Justiz nach so vielen Jahren der Dunkelheit neu entzündet; es ist an uns, dafür zu sorgen, daß Übeltäter wie dieser Mann von ihrer Flamme zu Asche verbrannt werden. Sonst, das verspreche ich euch, werte Richter, wird die Rache von oben über unser aller Häupter niedergehen wie Hagel von einem wütenden schwarzen Himmel.«
Erucius wies mit dem Zeigefinger himmelwärts und verharrte sehr lange in dieser Pose. Seine Brauen waren zusammengezogen, und er starrte die Richter an wie ein wütender Stier. Er hatte von Jupiters Vergeltung gesprochen, aber wir hatten alle vernommen, daß Sulla selbst verärgert wäre, wenn das Urteil auf Nicht schuldig lautete. Die Drohung hätte nicht deutlicher sein können.
Erucius raffte die Falten seiner Toga, warf den Kopf zurück und drehte sich um. Die Menge applaudierte und jubelte nicht, als er von der Rostra hinabstieg. Statt dessen herrschte ein eisiges Schweigen.
Er hatte nichts bewiesen. Anstelle von Beweisen hatte er versteckte Anschuldigungen vorgetragen. Er hatte nicht an die Gerechtigkeit appelliert, sondern an die Angst. Seine Rede war ein furchtbares Flickwerk aus offenen Lügen und selbstgerechten Einschüchterungen. Und trotzdem, welcher Mann, der ihn an jenem Morgen von der Rostra hatte sprechen hören, konnte daran zweifeln, daß Erucius seinen Fall gewonnen hatte?
30
Cicero erhob sich und ging mit entschlossenen Schritten und mit wehender Toga zur Rostra. Ich warf einen Blick auf Tiro, der auf einem Daumennagel herumkaute, und Rufus, der, die Hände im Schoß gefaltet, dasaß und ein bewunderndes Lächeln kaum unterdrücken konnte.
Cicero trat auf die Rednertribüne, räusperte sich und hustete. Eine Welle der Skepsis erfaßte die Menge. Niemand hatte ihn je zuvor reden gehört; ein verpatzter Einstieg war ein schlechtes Zeichen. Auf der Anklägerbank schmatzte Erucius vernehmlich mit den Lippen und starrte demonstrativ in den Himmel.
Cicero räusperte sich noch einmal und begann von neuem. »Richter dieser Kammer: Wahrscheinlich wundert ihr euch, daß unter all den
ausgezeichneten Bürgern und hervorragenden Rednern, die in euren Reihen sitzen, ausgerechnet ich mich erhoben habe, um zu euch zu sprechen...«
»ln der Tat«, murmelte Erucius. Vereinzeltes Gelächter erhob sich.
Cicero machte unbeirrt weiter. »Gewiß kann ich mich in Alter, Talent oder politischem Gewicht nicht mit ihnen vergleichen. Gewiß jedoch halten auch sie es, genau wie ich, für recht und billig, daß eine mit unerhörter Skrupellosigkeit ausgeheckte Anklage gegen einen unschuldigen Mann abgewehrt wird. So ist ihre Anwesenheit ein Zeichen, daß sie ihrer Verpflichtung gegenüber der Wahrheit für alle Welt sichtbar nachkommen wollen, aber sie bleiben stumm -wegen der stürmischen Bedingungen dieser Tage.« Er hob eine Hand, als wolle er einen Regentropfen auffangen, der vom strahlendblauen Himmel fiel -gleichzeitig jedoch sah er aus, als würde er eine Geste in Richtung der Sulla-Statue machen. In den Reihen der Richter gab es ein unbehagliches Stühlerücken. Erucius, der gerade seine Fingernägel inspizierte, bekam nichts davon mit.
Cicero räusperte sich erneut. Als er fortfuhr, klang seine Stimme lauter und kräftiger als zuvor, und die Unsicherheit war völlig verschwunden. »Bin ich soviel mutiger als diese schweigenden Männer? Fühle ich mich der Gerechtigkeit mehr verpflichtet als sie? Ich glaube nicht. Oder bin ich so versessen darauf, meine Stimme über das Forum hallen zu hören und für meine offenen Worte gelobt zu werden? Nein, nicht wenn ein besserer Redner dieses Lob verdienen könnte, indem er passendere Worte fände. Was hat also mich anstelle eines bedeutenderen Mannes dazu getrieben, die Verteidigung des Sextus Roscius von Ameria zu übernehmen?
Der Grund ist dieser: Hätte einer dieser großartigen Redner sich erhoben, vor diesem Gericht gesprochen und - wie in einem solchen Fall unvermeidlich
- Worte über die politischen Verhältnisse verloren, dann hätten die Leute mehr in seine Ausführungen hineingedeutet, als er tatsächlich gesagt hätte. Gerüchte wären entstanden, Verdächtigungen erhoben worden. Denn die bedeutende Position dieser Männer bringt es mit sich, daß nichts, was sie sagen, unbemerkt, keine Andeutung in ihren Reden undiskutiert bleibt. Ich hingegen kann alles sagen, was in diesem Fall gesagt werden muß, ohne widrige Aufmerksamkeit oder unangemessene Kontroversen fürchten zu müssen. Denn ich habe mich nicht in der Politik betätigt; kein Mensch kennt mich. Wenn ich mich einmal zu frei äußere oder eine peinliche Indiskretion fallen lasse, wird es wahrscheinlich niemand bemerken, oder wenn doch, wird man mir den Lapsus meiner Jugend und Unerfahrenheit wegen nachsehen.«
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