Die Unruhe, die ihn im Haus erfasst hatte, trieb ihn an der Werkstatt vorbei in nordöstlicher Richtung zum Ufer der Newa. Die weißen Nächte hatten ihren Höhepunkt erreicht, die diffuse Helligkeit eines Sommerabends hüllte ihn ein. Gespenstisch war das Licht in Anbetracht der Stille, die ihn umgab. In den Baracken der Leibeigenen, an denen er vorbeiging, glaubte er das tiefe Atmen der Schlafenden zu hören.
Rechts von ihm, in Richtung der großen Morastflächen, sah er in der Ferne gebückte Gestalten, die sich abmühten Eichenpflöcke in den sumpfigen Boden zu schlagen. Sankt Petersburg war keine Stadt, die schlief. Hier wurde in Schichten gearbeitet. In der ersten Schicht waren es etwa achttausend Mann, in der zweiten um die dreitausend. Natürlich veränderte sich die Zahl ständig, nicht nur durch die Toten, sondern vor allem dadurch, dass viele Arbeiter einfach davonliefen. Verdenken konnte Johannes es den armseligen Gestalten nicht. Ständig strömten neue Fronarbeiter aus allen Teilen des Zarenreiches herbei. Männer und Frauen, meistens Bauern, manchmal auch Soldaten und Sträflinge. Meist waren sie schon von der langen Reise erschöpft und am Rande ihrer Kräfte. Johannes ertappte sich dabei, wie er den Blick von den Arbeitern abwandte. Noch ein, zwei Meilen am Newaufer entlang und er würde die Baracken und Baustellen für eine Weile hinter sich lassen können.
Ganz ungefährlich war es nicht, allein in der Nacht herumzulaufen, aber er liebte nicht nur die Ruhe und diese Zeit, die ihm nun ganz allein gehörte, sondern auch den Anflug von Gefahr und die Wachsamkeit, die ihm jede Faser seines Körpers bewusst werden ließ. Seit die Winterstürme aufgehört hatten, war er nachts ab und zu der Arbeit entflohen und hatte sich auf seinen nächtlichen Spaziergängen zum Wasser ein wenig Zeit gestohlen – meist um ungestört an Christine zu denken. Heute führten ihn seine Schritte an den Rand der Siedlung und noch weiter zum glänzenden Band der Newa, die sich wie eine träge Schöne in ihrem Flussbett räkelte und ihre Arme um die Inseln schlang. Am anderen Ufer erhob sich der Schatten einer russischen Korvette. Sie war leichter als die schweren Linienschiffe, die bis zu hundertzwanzig Kanonen trugen. Diese Fregatte hier lag jedoch tief im Wasser. Fasziniert betrachtete Johannes die halb gerefften, rechteckigen Rahsegel. Das Schiff schien zu schlafen, aber die Wachen auf dem Schiff hatten ihn vermutlich längst erspäht – eine einsame Gestalt, die sehnsüchtig zu ihnen herüberstarrte. Er ging so nah an den Fluss heran, dass er beinahe nasse Füße bekam, und wanderte dann ostwärts weiter in Richtung der schwedischen Festungsruine. Ein dünner Nebelschleier wehte über die Wasseroberfläche und fing sich im Schilf am Ufer. Verkrüppeltes Buschwerk schien sich im nebelverhangenen Spiegel der Wasseroberfläche zu betrachten. Und weiter vorne, etwa eine Viertelmeile entfernt, wie Johannes schätzte, stand ein Baum, der aussah wie das verzerrte und in die Breite gezogene Spiegelbild einer Eiche. Johannes wunderte sich, dass sie noch unversehrt am Ufer stand und nicht längst zerhackt und verwertet worden war. Jemand hatte eine Scharte in den Stamm geschlagen. Darin eingeklemmt war das Bildnis der Gottesmutter. Ihr goldener Heiligenschein glänzte im geisterhaften Licht. Die kleine Ikone erklärte vielleicht, warum der Baum noch unberührt war. Johannes entfernte sich vom Ufer, um die heilige Eiche von der anderen Seite zu betrachten.
Der Stamm war gerade gewachsen – er würde sich hervorragend dazu eignen, einen Mast daraus anzufertigen. In Gedanken begann Johannes damit, sein Schiff zu bauen – eine schlanke, in niederländischem Stil gefertigte Jacht, die die Wellen schnitt wie eine Sense das Gras. Mit diesem einmastigen Küstenschiff könnte er nach Dänemark segeln oder sogar viel weiter, als er es sich je erträumt hatte – über das Tyrrhenische Meer nach Korsika vielleicht oder über das Adriatische Meer bis vor die Küsten des Osmanischen Reiches.
Direkt vor ihm schreckte ein Vogel hoch und flog kreischend auf. Johannes schnappte nach Luft und lächelte. Bald würde der Tag die diffuse Helligkeit der Nacht vertreiben. Gegen den glänzenden Fluss und die Nebel hob sich der Ikonenbaum ab wie ein knorriges Ungeheuer. Unter seinen Ästen regte sich etwas, ein Zweig begann zu wippen. Vielleicht ein weiterer Vogel, der im Astwerk Zuflucht gesucht hatte. Dann ertönte ein Platschen auf der anderen Seite. Johannes fuhr herum. Flussratten, dachte er. Er beugte sich zu den Ästen und spähte in das Wasser.
Eine Bewegung unter der Wasseroberfläche ließ ihn zusammenzucken. Ein schuppiger aalgleicher Körper schnitt für einen Augenblick die Oberfläche und verschwand wieder im Dunkel. Was für ein großer Fisch! Dann sah er etwas Helles im Wasser treiben.
Wie die Ahnung eines Bildes erkannte er ein bleiches Gesicht, das unter der Oberfläche trieb, die Augen geöffnet, der Mund blutleer. Schwarzes Haar trieb wie Tang um die weißen Schultern. Unter der Wasseroberfläche schwebte eine Leiche! Ihre Arme sahen aus wie blasse Äste, an deren Enden fünfblättrige Wasserblüten wuchsen. Eine Hand war so nah unter der Oberfläche, dass es aussah, als würde sie nach Johannes greifen wollen. Er kannte diese Hand.
Weiß wie ihr Körper war sie, mit Fingernägeln, so rund und transparent wie dünne Muschelschalen. Als hätte ein Schwall Eiswasser ihn aus einer Trunkenheit geholt, waren seine Gedanken plötzlich blitzklar.
Hastig überschlug er, wie lange es her war, seit die Tote in der Werkstatt gelegen hatte. Es war unmöglich – sie hätte aufgeschwemmt und verzerrt aussehen müssen. Im Wasser jedoch wirkte sie unverändert, schwarze Augen schienen ihn anzustarren. Als ihr Körper sich bewegte, schrie Johannes auf und sprang zurück. Das Gesicht wurde noch unwirklicher, je tiefer es ruckartig in die Tiefe hinabgezogen wurde. Im nächsten Augenblick kam Johannes sich lächerlich vor. Seine Vernunft gewann die Oberhand.
Etwas hatte an der Leiche gezogen, vielleicht, so dachte er mit einem Schaudern, das schuppige Ungetüm. Hatte der Mörder die Tote mit Absicht in der Newa versenkt, damit die Fische sie fraßen? Aber welcher Mörder wäre so dumm, einen Körper so nah am Ufer zu verstecken? Johannes überwand seinen Ekel und beugte sich wieder über das Wasser. Er konnte nicht zusehen, wie ein Aal oder was immer sich da gütlich tat. Nein, diesen Festschmaus würde er dem Ungeheuer verderben. Obwohl ihm Angst und Unbehagen die Kehle zuschnürten, stützte er sich an einem Ast ab, lehnte sich über das Wasser und hangelte nach der weißen Hand.
Im nächsten Augenblick hörte er ein Knacken.
Wasser spritzte ihm ins Gesicht, etwas fiel auf ihn herunter und riss ihn so heftig zurück, dass sein Kragen ihn würgte. Jetzt erst kam der Schmerz. Bevor er nach Luft schnappen konnte, traf ihn bereits ein weiterer Schlag gegen die Schulter, der ihn vom Ufer wegtaumeln ließ.
»Verschwinde!«, zischte ihm jemand zu, ein dritter Hieb gegen seine Rippen folgte, den Johannes vor Überraschung einfach ohne Gegenwehr einsteckte.
Dann wurde ihm endlich klar, dass er angegriffen wurde. Der Angreifer musste direkt über ihm im Baum gesessen haben. Johannes ballte die Hand zur Faust und schlug zu. Mit einem erstickten Laut ging sein Angreifer zu Boden, rappelte sich aber sofort wieder auf.
»Was willst du?«, stieß Johannes hervor.
»Von einem deutschen Bastard wie dir? Nur dass du verschwindest!«, blaffte der Fremde ihn an. Jetzt erst nahm Johannes das schmale Gesicht mit den lodernden dunklen Augen richtig wahr. Struppiges schwarzes Haar umrahmte eine hohe Stirn. Der Junge war nicht älter als Johannes, aber er schien die Ausländer nicht minder zu hassen als die meisten anderen Russen.
»Du wirst mir nicht befehlen, wann ich zu verschwinden habe«, zischte Johannes.
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