»War Pater Ibor ein so schwacher junger Mann?«, überlegte Fidelma leise.
»Natürlich. Was sonst außer Schwäche sollte ihn so handeln lassen?«, fragte der Priester.
»So? Ihr habt also sowohl das Kruzifix als auch den Kelch bei ihm wiedergefunden?«
Pater Febal zögerte einen Moment lang. Er machte mit einer Hand eine verneinende Geste.
Fidelmas Augen weiteten sich, und sie beugte sich vor.
»Soll das heißen, ihr habt die vermissten Gegenstände nicht wiedergefunden?« fragte sie scharf.
»Nein«, gab der Priester zu.
»Dann ist die Angelegenheit überhaupt nicht klar«, stellte sie grimmig fest. »Bestimmt erwartest du nicht vom Abt, dass er beruhigt ist, wenn diese Gegenstände nicht wiedergefunden wurden. Wie kannst du so sicher sein, dass Pater Ibor sie gestohlen hat?«
Fidelma hoffte auf eine Erklärung, doch es kam keine.
»Dann solltest du mir vielleicht besser sagen, wie du zu der Annahme gelangst, die Angelegenheit sei klar!« Ihr Tonfall war schneidend. »Wenn ich dem Abt erläutern soll, warum sie klar ist, muss ich mir auch selbst darüber im Klaren sein. Wenn Pater Ibor dachte, man würde ihn auf jeden Fall ergreifen und er sich deshalb selbst zum Tode verurteilte, was tat er dann mit den Gegenständen, die er gestohlen hatte?«
»Es gibt eine logische Antwort«, murmelte Pater Febal ohne Überzeugung.
»Welche?«
»Nachdem er sich erhängt hatte, kam zufällig irgendein streunender Dieb vorbei und nahm sie an sich, bevor wir eintrafen.«
»Und dafür gibt es einen Beweis?«
Der Priester schüttelte widerwillig den Kopf.
»Du vermutest das also nur?« In Fidelmas Stimme war nun ein Hauch von Spott.
»Welche andere Erklärung gibt es?«, wollte Pater Febal verärgert wissen.
Fidelma sah ihn voller Verachtung an.
»Willst du, dass ich dies dem Abt berichte und ihm sage, dass er sich nicht zu sorgen braucht? Dass ein wertvolles Kruzifix und ein Kelch aus einer seiner Kirchen gestohlen wurden und ein Priester erhängt aufgefunden wurde, aber es keinen Grund zur Sorge gibt?«
Pater Febals Miene verfinsterte sich.
»Ich bin überzeugt, dass Pater Ibor die Gegenstände gestohlen und sich in einem Anflug von Reue das Leben genommen hat. Ich bin überzeugt, dass jemand die Gegenstände gestohlen hat, nachdem Ibor Selbstmord begangen hatte.«
»Aber ich bin es nicht«, antwortete Fidelma beißend. »Schicke Bruder Finnlug zu mir.«
Pater Febal war bei ihrem befehlenden Tonfall automatisch aufgestanden. Nun zögerte er in der Tür der Sakristei.
»Ich bin es nicht gewohnt …«, begann er.
»Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich warten lässt.« Fidelmas Stimme war eisig, als sie ihn unterbrach. Sie wandte den Kopf ab und entließ ihn so. Pater Febal blinzelte und schlug dann wütend die Tür hinter sich zu.
Bruder Finnlug war ein drahtig aussehender Mann; sein sehniger Körper, gebräunt von Sonne und Wind, zeugte davon, dass er jemand war, der es eher gewohnt war, bei jedem Wetter im Freien zu sein, als in den Kreuzgängen einer Abtei Schutz zu suchen. Fidelma begrüßte ihn, als er die Sakristei betrat.
»Ich bin Fidelma von …«
Bruder Finnlug unterbrach sie mit einem schnellen, freundlichen Lächeln und sagte: »Ich weiß sehr gut, wer du bist, Lady. Ich habe dich und deinen Bruder, König Colgú, viele Male während der Jagdgesellschaften meines Herrn, des Lords von Maine, gesehen.«
»Dann weißt du, dass ich auch Anwältin bei Gericht bin und es deine Pflicht ist, mir die Wahrheit zu sagen?«
»Das weiß ich. Du bist hier, um den tragischen Tod Pater Ibors zu untersuchen.« Bruder Finnlug war direkt und freundlich im Vergleich zu seinem Oberen.
»Weshalb nennst du seinen Tod tragisch?«
»Ist nicht jeder Tod tragisch?«
»Hast du Pater Ibor gut gekannt?«
Der ehemalige Jäger schüttelte den Kopf.
»Ich wusste nur wenig über ihn. Er war ein junger Mann, vor kurzem zum Priester geweiht und sehr unsicher. Er war erst ungefähr einen Monat hier.«
»Ich verstehe. War er das neueste Mitglied der Gemeinde? Wie lange ist beispielsweise Pater Febal schon hier?«
»Pater Febal ist hier seit sieben Jahren Priester. Ich kam vor einem Jahr hierher, und Bruder Adag ist seit etwas über einem Jahr hier.«
»Ich vermute, die Mitglieder eurer kleinen Gemeinde verstanden sich gut miteinander?«
Bruder Finnlug antwortete nicht.
»Ich meine, ich vermute, es gab keine Unstimmigkeiten zwischen euch vieren?«, erläuterte Fidelma.
Finnlugs Gesicht verzog sich zu einem Ausdruck, den Fidelma nicht deuten konnte.
»Um ehrlich zu sein, Pater Febal legt Wert darauf, zu betonen, dass er einen höheren Rang hat als wir. Ich glaube, er stammt aus einer Adelsfamilie, das hat er nie vergessen.«
»Wird ihm diese Einstellung verübelt?«
»Nicht von mir. Ich habe beim Lord von Maine gedient. Ich bin es gewohnt, Befehle zu empfangen und sie auszuführen. Ich kenne meinen Platz.«
War da ein etwas bitterer Unterton?, fragte sich Fidelma.
»Wenn ich mich recht erinnere, war der Lord von Maine ein großzügiger Mann, der gut für diejenigen sorgte, die ihm dienten. Es muss ein harter Schlag für dich gewesen sein, einen solchen Herrn zu verlassen und ein religiöses Leben zu beginnen?«
»Geistlicher Lohn ist oft wertvoller als weltlicher«, entgegnete Finnlug. »Doch wie ich schon sagte, ich bin es gewohnt, zu dienen. Das Gleiche könnte man von Bruder Adag behaupten, der einst Diener eines anderen Edelmannes war. Aber er ist auch ein ziemlich schlichter Mensch.« Der Mönch tippte sich an die Stirn. »Man sagt, solche Leute sind von Gott gesegnet.«
»Verstand sich Pater Ibor gut mit Pater Febal?«
»Ach, keine Ahnung. Er war ein stiller junger Mann. Blieb für sich allein. Ich glaube nicht, dass er Pater Febal mochte. Ich habe Missgunst in seinen Augen gesehen.«
»Warum sollte er missgünstig sein? Pater Febal war der Ranghöchste in eurer Gemeinde. Pater Ibor hätte seine Autorität anerkennen sollen, ohne sie zu hinterfragen.«
Der Mönch zuckte mit den Schultern.
»Ich hatte den Eindruck, dass er Pater Febals Autorität feindselig gegenüberstand.«
»Warum, denkst du, hat er das Kruzifix und den Kelch aus der Kirche gestohlen?«, fragte Fidelma mit schneidender Stimme.
Bruder Finnlugs Miene veränderte sich nicht.
Er breitete nur die Arme aus.
»Wer vermag zu wissen, was einen Menschen zu solch einer Handlung treibt? Wer kennt die tiefsten Geheimnisse seines Herzens?«
»Um das herauszufinden, bin ich hier«, antwortete Fidelma trocken. »Sicher hast du eine ungefähre Vorstellung? Oder wenigstens eine Vermutung?«
»Was meint Pater Febal?«
»Spielt es eine Rolle, was er meint?«
»Ich hätte gedacht, dass er Pater Ibor näherstand als Bruder Adag oder ich.«
»Ihm näherstand? Du hast doch gesagt, es hätte Feindseligkeiten zwischen ihnen gegeben.«
»Ich habe nicht behauptet, dass sie Freunde waren. Aber sie waren beide Priester. Sie waren von ähnlicher Herkunft, im Gegensatz zu Adag und mir. Als Brüder dieser Gemeinde sind wir eher Diener der Kirche als Gleichgestellte von Pater Febal und Pater Ibor.«
»Ich verstehe.« Fidelma schaute ihn nachdenklich an. »Ich bin sicher, der Abt wird bekümmert sein, wenn er erfährt, dass eure Gemeinde auf diese Art geleitet wird. Wir alle sind Diener Gottes und stehen alle vereint unter seiner Macht.«
»Das ist nicht so ganz die Glaubensrichtung, die Pater Febal vertritt.« Nun war die Bitterkeit in seiner Stimme nicht mehr zu überhören.
»Du weißt also nicht, weshalb Ibor das Kruzifix und den Kelch gestohlen haben könnte?«
»Es waren sehr wertvolle Gegenstände. Der Erlös würde sie für immer reich machen.«
»Sie?«
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