»Was willst du damit sagen?«, drängte Daolgar von Sliabh Luachra.
»Nicht mehr und nicht weniger, als dass das Gift in den Becher geraten sein muss, nachdem Nechtan den ersten Becher geleert und Ciar ihm nachgeschenkt hatte. Das Gift ist erst in den wieder aufgefüllten Becher gelangt.«
Daolgar lachte höhnisch los. »Dann habe ich die Lösung. Es gibt nur zwei aus dieser Runde, die das Gift in Nechtans Becher hätten tun können.«
»Dann nenne sie«, forderte Fidelma ihn auf.
»Entweder Marbán oder Gerróc. Sie haben links und rechts von Nechtan gesessen. Leichte Sache, Gift in einen Becher zu tun, der dicht vor einem steht, während wir anderen gebannt auf Nechtan blickten und lauschten, was er sagte.«
Marbán war rot vor Empörung geworden, aber der alte Arzt schien am meisten betroffen. »Ich kann beweisen, dass ich es nicht war«, erklärte er mit erstickter Stimme.
»Du kannst es beweisen?«, fragte Fidelma verwundert.
»Ja, ja. Du hast gesagt, wir alle hätten Gründe gehabt, ihn zu hassen, und das heißt, dass wir ihn alle lieber tot als lebendig gesehen hätten. Damit hätte auch jeder von uns ein Tatmotiv gehabt.«
»Richtig.«
»Ich als Einziger von euch allen habe gewusst, dass es sich erübrigte, Nechtan umzubringen.«
Fidelma brauchte eine Weile, ehe sie die nächste Frage stellte. »Inwiefern erübrigte es sich, Gerróc?«
»Weshalb sollte man einen Menschen töten, der so gut wie im Sterben lag?«
Lautstarkes Erstaunen ging durch den Raum. Erst, als es abebbte, konnte Fidelma nachhaken: »Der so gut wie im Sterben lag?«
»Ich war Nechtans Arzt. Es ist wahr, ich habe ihn gehasst. Er hat mich um meinen Lohn gebracht, aber als Arzt habe ich hier trotzdem mein Auskommen gehabt. Ich habe mich nicht beklagt. Meine Jahre sind gezählt. Ich war nicht gewillt, meine Sicherheit aufs Spiel zu setzen, indem ich meinen Stammesfürsten sträflicher Handlungen bezichtigte. Es ist einen Monat her, da packten Nechtan grässliche Kopfschmerzen. Ein- oder zweimal waren sie so arg, dass ich ihn ans Bett fesseln musste. Ich untersuchte ihn und entdeckte eine Schwellung am Hinterkopf. Es war ein bösartiges Gewächs, schon innerhalb einer Woche war es viel größer geworden. Wenn ihr mir nicht glaubt, könnt ihr euch selbst davon überzeugen. Die Geschwulst ist hinter dem linken Ohr, leicht zu erkennen.«
Fidelma beugte sich über den Stammesfürsten und besah sich widerwillig die Schwellung hinter dem Ohr.
»Die Schwellung ist unverkennbar«, bestätigte sie.
Marbán versuchte, den alten Arzt zu einer logischen Schlussfolgerung zu bewegen. »Worauf willst du hinaus, Gerróc?«
»Vor wenigen Tagen musste ich Nechtan eröffnen, dass er vermutlich den nächsten Neumond nicht mehr erleben würde. Sein Tod war unvermeidlich. Das Gewächs vergrößerte sich und verursachte ihm zunehmende Pein. Ich wusste, seine Tage waren gezählt. Warum also hätte ich ihn ermorden sollen? Gott hatte bereits befunden, wann und wie ihn der Tod ereilen würde.«
Nahezu bösartig frohlockte Daolgar: »Dann bleibst nur noch du, tánaiste der Múscraige. Dass dein Stammesfürst dem Tod nahe war, konntest du nicht wissen, und du hattest sowohl ein Tatmotiv als auch die Gelegenheit.«
Marbán war aufgesprungen; die Hand griff an den Gürtel, wo sonst sein Schwert hing. Aber er befand sich in einer Festhalle, und das Gesetz verlangte, bei einem Festmahl durften keine Waffen getragen werden.
»Für diese Anschuldigung wirst du dich rechtfertigen müssen, Stammesfürst der Sliabh Luachra!«, donnerte er.
Cuill hingegen unterstützte Daolgars Gedankengang.
»Du warst mit deinem neuen Reichtum als Stammesfürst etwas zu schnell zur Hand, den Ehrenpreis zu zahlen, wenn sich einer von uns als Täter stellt. Damit hättest du dir ein Problem vom Halse geschafft. Ohne Fehl und Tadel wärst du aus der Sache hervorgegangen. Man hätte dich als Stammesfürst bestätigt. Sollte man dich jedoch für schuldig befinden, Nechtan getötet zu haben, wirst du sofort jedweden Amtes enthoben. Kein Wunder, dass du so eilfertig mir die Schuld zuschieben wolltest.«
Mit finsterer Miene stand Marbán vor ihnen. In ihren Augen war er der zu Verurteilende. Erregtes Gemurmel breitete sich aus. Fidelma hatte ihre liebe Not, wieder Ruhe zu schaffen.
»Lassen wir den unnützen Streit. Marbán hat Nechtan nicht getötet.«
Überraschtes Schweigen.
»Wer war es dann?«, fragte Dathó verärgert. »Du treibst mit uns ein Katz-und-Maus-Spiel, Schwester. Wenn dir schon alles klar ist, dann nenne uns den Täter.«
»Jeder an diesem Tisch weiß, dass Nechtan ein bösartiger, eigenwilliger Mensch war, der dem Leben nichts Gutes abgewinnen konnte. Ebenso wie wir unseren Grund hatten, ihn zu hassen, hasste auch er jeden, mit dem er es zu tun hatte.«
»Trotzdem, wer hat ihn umgebracht?«, wiederholte nun Daolgar die alle bedrängende Frage.
»Er hat selbst Hand an sich gelegt«, eröffnete sie ihnen.
Betroffen und ungläubig blickten sie alle an.
»Ich hatte schon etwas länger den Verdacht«, fuhr Fidelma fort, »aber ich konnte ihn nicht erhärten. Gerróc eben hat mir das Rätsel entschlüsselt.«
»Das musst du uns erklären, Schwester, ich kann dir nicht folgen«, verlangte Marbán mürrisch.
»Ich habe ja schon darauf verwiesen, dass so, wie wir Nechtan hassten, er auch uns hasste. Als er erfuhr, dass sein Tod nahte, entschloss er sich zu einem weiteren großen Racheakt an all denen, die er am wenigsten ausstehen konnte. Ein rasches Hinübergleiten in die Anderswelt war ihm lieber als das qualvolle Ende, das ihm Gerróc ausgemalt hatte. Wenn es eines tapferen Mannes bedarf, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, dann muss man ihm zugestehen, dass er diese Tapferkeit besaß. Er entschied sich für ein rasch wirkendes Gift, Realgar, und genoss die Schadenfreude, dass es eine Substanz war, die Cuill, der Mann seiner gegenwärtigen Geliebten, bei seiner Arbeit benutzte.
Dann verfiel er auf die Idee, uns alle zu einem letzten Gastmahl einzuladen. Er setzte auf unsere Neugierde und Eigenliebe und erklärte, er wolle sich vor allen dafür entschuldigen, dass er uns so übel mitgespielt habe. Er hatte alles sorgfältig durchdacht. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, breitete er seine Schandtaten in allen Einzelheiten aus. Dabei ging es ihm weniger darum, um Verzeihung zu bitten, vielmehr wollte er absichern, dass jeder von jedem wusste, dass alle, wie wir da saßen, guten Grund hatten, ihn zu verabscheuen und lieber tot als lebendig zu sehen. Er bereitete den Nährboden für gegenseitiges Misstrauen. Er rühmte sich eher seiner Missetaten, als dass er sich bei uns dafür entschuldigte. Er rühmte sich und warnte zugleich.«
Ess stimmte ihr zu. »Ich empfand seine letzten Worte als merkwürdig, aber im Nachhinein ergeben sie einen Sinn.«
»Das sehe ich auch so«, meinte Fidelma.
»Wie waren die Worte noch mal?«, fragte Daolgar.
»Er sagte: ›Und so erhebe ich meinen Becher und trinke auf euer aller Wohl, auf jeden Einzelnen von euch, denn ich stehe bei euch allen in der Schuld. Danach mögen Recht und Gesetz ihren Lauf nehmen; dem, was dann befunden wird, werde ich mich widerspruchslos fügen. … Auf euer Wohl … Viel Spaß, wenn ihr über mich richtet.‹« Wortwörtlich hatte Fidelma Nechtans Worte wiedergegeben.
»Wie eine Entschuldigung klingt das nicht«, gab Marbán zu. »Aber was bezweckte er?«
»Jetzt ist es mir klar«, antwortete ihm Ess. »Siehst du immer noch nicht, wie bösartig dieser Mann war? Er wollte, dass jeder von uns in Verdacht geriet, ihn ermordet zu haben. Er spielte seine Niedertracht bis zuletzt gegen uns aus.«
»Aber wie er das zu erreichen gedachte, sehe ich immer noch nicht«, bekannte Gerróc, völlig verwirrt.
»Im Wissen um seinen Tod, der ihn in wenigen Tagen oder Wochen ereilen würde, bestimmte er selbst seine Lebensfrist«, erläuterte Fidelma geduldig. »Ess hat recht, er war ein bösartiger, niederträchtiger Mensch. Er lud uns zum Mahl und war entschlossen, sich an dessen Ende zu vergiften. Zu Beginn des Essens befahl er seinem Bediensteten Ciar, Brehon Olcán, seinen Richter, holen zu lassen. Er rechnete damit, dass Olcán uns im Aufruhr der Gemüter vorfinden würde, dass er Zeuge werden würde, wie wir uns gegenseitig die Schuld zuwiesen. Er hoffte weiterhin, Olcán würde daraus die falsche Schlussfolgerung ziehen und glauben, dass einer von uns, wenn nicht gar alle, in seine Ermordung verstrickt waren. Er beging Selbstmord, in der Hoffnung, wir würden des Mordes an ihm bezichtigt werden. Noch während er zu uns sprach, tat er unauffällig das Gift in seinen Becher.«
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