Ich fuhr zu der Stelle zurück, von der aus ich Humbers Hof beobachtet hatte, doch da war niemand. Entweder hatte Beckett meinen Brief nicht bekommen, oder er hatte niemanden abstellen können, oder der Abgestellte war das Warten leid geworden und hatte sich getrollt. Meinen Koffer, die Decke und den Rest Verpflegung hatte niemand angerührt.
Bevor ich zusammenpackte und der Gegend adieu sagte, nahm ich auf eine spontane Regung hin das Fernglas heraus, um noch ein letztes Mal hinunter auf die Stallungen zu schauen.
Was ich sah, machte meine ganze schöne Selbstzufriedenheit und Selbstbeglückwünschung zunichte.
Ein roter Sportwagen bog in den Hof ein. Er hielt neben Adams’ grauem Jaguar, die Tür ging auf, und ein Mädchen stieg aus. Ich war zu weit weg, um ihr Gesicht zu erkennen, aber ich kannte den Wagen und die fabelhaften silberblonden Haare. Sie warf die Autotür zu und ging zögernd aus meinem Blickfeld hinaus zum Büro.
Ich fluchte laut. Etwas Vertrackteres, etwas Schlimmeres hätte überhaupt nicht passieren können! Elinor hielt mich für einen normalen Pferdepfleger, denn ich hatte ihr nichts gesagt. Aber ich hatte mir eine Hundepfeife von ihr ausgeliehen. Und sie war Octobers Tochter. Konnte man davon ausgehen, fragte ich mich erschrocken, daß sie beides unerwähnt ließ und Adams nicht auf den Gedanken brachte, sie sei eine Gefahr für ihn?
Viel konnte ihr eigentlich nicht passieren, dachte ich. Solange sie erkennen ließ, daß nicht sie, sondern ich allein über die Hundepfeifen Bescheid wußte, war sie in Sicherheit.
Und wenn sie das nun nicht klar rüberbrachte? Adams war ja immer unberechenbar. Er dachte nicht normal. Er war ein Psychopath. Ohne lange zu fackeln, hatte er einen Journalisten umgebracht, der ihm zu neugierig geworden war. Was sollte ihn daran hindern, noch einmal zu morden, wenn er sich einredete, es sei nötig?
Ich gebe ihr drei Minuten, dachte ich. Wenn sie nach mir fragt und man ihr sagt, daß ich nicht mehr da bin, und sie fährt gleich wieder, ist ja alles gut.
Ich wollte, daß sie aus diesem Büro herauskäme und sich in ihr Auto setzte. Es schien mir ohnehin fraglich, ob ich sie da rausholen konnte, wenn Adams ihr etwas antun wollte, denn dann mußte ich auch mit Humber, Wilson und Cass rechnen. Ich hätte mir das gern erspart. Aber drei Minuten vergingen, und der rote Wagen stand immer noch verlassen auf dem Hof.
Sie hatte sich auf eine Unterhaltung eingelassen, und sie ahnte nicht, daß es Dinge gab, die besser ungesagt blieben. Hätte ich ihr seinerzeit erzählt, warum ich bei Humber war, wäre sie niemals gekommen. Es war meine Schuld, daß sie dort war. Ich mußte alles tun, damit sie wohlbehalten wieder herauskam. Sonnenklar.
Ich legte das Fernglas in den Koffer, ließ ihn und die Decke, wo sie waren, zog den Reißverschluß meiner Jacke zu, setzte den Sturzhelm auf, trat die Maschine an und fuhr ins Tal hinab zu Humber.
An der Einfahrt ließ ich das Motorrad stehen und ging Richtung Stall, vorbei an dem Schuppen, in dem der Pferdetransporter stand. Das Tor war geschlossen, von Jud Wilson keine Spur. Vielleicht war er schon heimgefahren; hoffentlich. Ich betrat den Stallhof von der Büroseite her und sah Cass auf der anderen Seite über die Tür der vierten Box von links schauen. Kandersteg war zu Hause.
Adams’ Jaguar und Elinors TR4 standen nebeneinander in der Hofmitte. Die Pfleger waren ganz bei ihrer Arbeit, und alles sah normal und friedlich aus.
Ich öffnete die Tür zum Büro und trat ein.
Du mit deinen Befürchtungen, dachte ich. Du mit deiner überschäumenden Phantasie. Niemand wollte ihr was. Sie hatte ein Glas, halbvoll mit einer rosa Flüssigkeit, in der Hand und unterhielt sich lachend mit Adams und Humber, die ebenfalls tranken.
Humber wirkte angespannt, doch Adams lachte amüsiert. Das Bild prägte sich mir ein, bevor sie alle drei zu mir herüberschauten.
«Daniel!«rief Elinor.»Mr. Adams sagte, Sie seien schon weg.«
«Ja, aber ich habe etwas vergessen. Das wollte ich noch holen.«
«Lady Elinor Tarren«, sagte Adams betont, indem er an mir vorbeiging, die Tür schloß und sich dagegenlehnte,»wollte wissen, ob Sie das Experiment durchgeführt haben, für das sie Ihnen die Hundepfeife geliehen hat.«
Es war also doch gut, daß ich zurückgekommen war.
«Das habe ich so nicht gesagt«, wandte sie ein.»Ich dachte nur, ich könnte die Pfeife mitnehmen, wenn Daniel sie nicht mehr braucht. Ich meine, ich kam gerade vorbei, und dann müßte er sie mir nicht extra schicken.«
Ich wandte mich an Adams.»Lady Elinor Tarren«, sagte ich ebenso betont wie er,»weiß nicht, wofür ich ihre Hundepfeife haben wollte. Ich habe es ihr nicht gesagt. Sie hat keine Ahnung.«
Seine Augen wurden schmal, dann wieder weit und starrten mich an. Er schob das Kinn vor. Ihm war aufgefallen, wie ich ihn angesprochen, ihn angesehen hatte. So kannte er mich nicht. Er richtete den Blick auf Elinor.
«Lassen Sie sie in Ruhe«, sagte ich.»Sie weiß nichts.«
«Worum geht’s denn eigentlich?«fragte Elinor lächelnd.
«Was ist das für ein geheimnisvolles Experiment?«
«Nichts von Bedeutung«, sagte ich.»Hier, ehm… hier gibt’s einen tauben Stallmann, der wollte wissen, ob er auf einer höheren Frequenz hören kann, das ist alles.«
«Oh«, sagte sie.»Und konnte er?«
Ich schüttelte den Kopf.»Leider nicht.«
«Schade. «Sie trank einen Schluck, und Eis klimperte in ihrem Glas.»Tja, kann ich sie dann wiederhaben, wenn Sie sie nicht mehr brauchen?«
«Klar. «Ich holte die Pfeife aus meinem Gürtel und gab sie ihr. Humber sah es mit Verwunderung, Adams schwoll der Hals, weil bei der von Humber veranlaßten Durchsuchung ein so simples Versteck übersehen worden war.
«Danke«, sagte sie und steckte die Pfeife in ihre Tasche.
«Was haben Sie denn jetzt vor? Gehen Sie zu einem anderen Stall? Wissen Sie«, meinte sie lächelnd zu Humber,»es wundert mich, daß Sie ihn weggehen lassen. Er war der beste Reiter, der je bei meinem Vater gearbeitet hat. So einen muß man doch behalten.«
Bei Humber war ich mäßig geritten. Er sagte gewichtig:
«So gut ist er auch wieder nicht…«, wurde aber von Adams aalglatt unterbrochen.
«Ich glaube, wir haben Roke unterschätzt, Hedley. Lady Elinor, wenn Sie ihn so empfehlen, stellt ihn Mr. Humber sicherlich wieder ein und läßt ihn nie mehr weg.«»Prima«, meinte sie beifällig.
Adams sah mich unter gesenkten Augenlidern an, um festzustellen, ob ich seinen kleinen Spaß mitbekommen hatte. Ich fand ihn nicht sehr lustig.
«Nehmen Sie doch den Sturzhelm ab«, sagte er.»Wir sind im Haus und sprechen mit einer Dame. Nehmen Sie ihn ab.«
«Ich behalte ihn lieber auf«, sagte ich ruhig. Und am liebsten hätte ich noch eine Ritterrüstung dazu gehabt. Adams, der keinen Widerspruch von mir gewohnt war, klappte den Mund zu.
Humber sagte verwirrt:»Ich verstehe nicht, was Ihnen an Roke liegt, Lady Elinor. Ich dachte, Ihr Vater hätte ihn rausgeworfen, weil er Sie… nun ja, belästigt hat.«
«Aber nein«, erwiderte sie lachend.»Nicht mich, meine Schwester angeblich. Nur war das alles erfunden. Ein Märchen. «Sie trank aus und lieferte mich endgültig ans Messer.»Ich mußte Vater versprechen, niemandem zu erzählen, daß das alles aus der Luft gegriffen war, aber ich finde, Sie als Daniels Arbeitgeber sollten wissen, daß er ein viel besserer Kerl ist, als er sich den Anschein gibt.«
Einen Moment lang war es arg still. Dann sagte ich lächelnd:»Das war das netteste Zeugnis, das ich je bekommen habe… Sie sind sehr liebenswürdig.«
«Ach je«, sagte sie lachend,»Sie wissen schon, wie ich das meine. Und ich verstehe wirklich nicht, warum Sie nicht ein bißchen Mut zur Selbstbehauptung haben.«
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