«Lassen Sie ihn bloß nicht laufen.«
«Aber nein!«
Erik war schon längst nach Hause gefahren, aber Knut meinte, ich sei ja schließlich mit polizeilichen Aufgaben betraut, und stellte mir für die Fahrt zum Hause der Sandviks einen Polizeiwagen zur Verfügung. Ich ging durch den Torbogen in den Innenhof, wandte mich dann nach rechts und klingelte an der gut beleuchteten, eindrucksvollen Haustür.
Eine korpulente Frau mittleren Alters öffnete. Sie war bieder angezogen, trug kein Make-up und hatte eine sehr bestimmte, ziemlich abweisende Art.
«Bitte?«fragte sie.
Ich erklärte ihr, wer ich war, und bat um ein Gespräch mit Mrs. Sandvik.
«Ich bin Mrs. Sandvik. Wir haben vor ein paar Tagen miteinander telefoniert.«
«Das ist richtig«, sagte ich und ließ mir meine Überraschung nicht anmerken. Ich hatte angenommen, sie wüßte bereits, daß ihr Mann auf dem Polizeirevier saß, aber offensichtlich hatte er seine beiden Anrufe noch nicht erledigt. Als wir ihn im Vernehmungszimmer zurückließen, hatte Knut gesagt, er werde veranlassen, daß Sandvik dort ein Telefon bekäme, was aber wohl seine Zeit brauchte. Schließlich riß sich niemand ein Bein aus, um einem Tatverdächtigen die Wünsche von den Augen abzulesen, auch dann nicht, wenn der Betreffende Per Bj0rn Sandvik hieß.
Das machte es mir jedoch leichter, Fragen zu stellen.
«Kommen Sie herein«, sagte Mrs. Sandvik.»Es wird kalt, wenn die Tür offensteht.«
Ich trat in die Diele. Sie forderte mich nicht auf, noch weiter hereinzukommen.
«Mikkel?«fragte sie überrascht.»Der ist in der Schule. Das habe ich Ihnen doch gesagt.«
Ich erklärte ihr die Sache mit der Tante Berit.
«Er hat keine Tante Berit.«
Hast du Töne!
«Äh. kennt er jemand, der den Namen Berit trägt?«
Sie zog die Augenbrauen hoch.»Ist das wichtig?«
«Ich kann nicht nach Hause zurückfliegen, bevor ich nicht mit Mikkel gesprochen habe. Tut mir leid.«
Sie zuckte die Achseln. Nach einer langen Pause des Nachdenkens sagte sie:»Berit ist der Name einer alten Kinderfrau meines Mannes. Ich weiß nicht, ob Mikkel noch jemand anderen kennt, der Berit heißt. Wahrscheinlich.«
«Wo wohnte denn diese alte Kinderfrau Ihres Mannes?«
«Das weiß ich nicht.«
Sie konnte sich nicht an den Familiennamen der Kinderfrau erinnern und war überhaupt nicht sicher, ob sie noch lebte. Sie meinte abschließend, ihr Mann würde mir das sicher sagen können, wenn er nach Hause komme, und öffnete unmißverständlich die Tür. Mit dem ausgesprochenen Gefühl, ein Feigling zu sein, ging ich. Per Bj0rn hatte ihre gesicherte Welt in Stücke geschlagen, aber das würde er ihr selbst sagen müssen.
«Er könnte bei der alten Kinderfrau seines Vaters sein«, sagte ich zu Knut.»Oder auch nicht.«
Er überlegte.»Wenn er den Zug nach Bergen genommen hat, erinnert sich vielleicht noch der Beamte am Fahrkartenschalter an ihn.«
«Ist einen Versuch wert. Inzwischen könnte er aber schon überall sein. Überall auf der weiten Welt.«
«Er ist mal gerade siebzehn«, meinte Knut.
«Das ist für heutige Verhältnisse schon alt.«
«Wie hat Mrs. Sandvik die Nachricht von der Inhaftierung ihres Mannes aufgenommen?«
«Ich hab’s ihr nicht gesagt. Ich dachte, das sollte Per Bj0rn selbst tun.«
«Aber das hat er doch!«
«Sie wußte von nichts«, sagte ich verständnislos.
Knut sagte:»Ich bin sicher, daß er seine beiden Anrufe vor etwa einer halben Stunde getätigt hat.«
«O Scheiße«, sagte ich.
Er schoß mit vierzig Stundenkilometern aus seinem Büro und schrie ein paar unglückliche Untergebene an. Als er wieder hereinkam, hatte er ein Stück Papier in der Hand und sah grimmig, beunruhigt und reumütig zugleich aus.
«Sie haben halt Schwierigkeiten damit, einem Mann wie Sandvik den Gehorsam zu verweigern«, sagte er.»Er hat ihnen gesagt, sie sollten draußen warten, weil er mit seinem Anwalt und seiner Frau telefonieren müsse und beide Gespräche privater Natur seien. Und sie haben seiner Aufforderung Folge geleistet. «Er sah auf das Blatt Papier in seiner Hand.»Wenigstens hatten sie Verstand genug, die Nummern für ihn anzuwählen und sie aufzuschreiben. Es sind beides Osloer Nummern.«
Er gab mir den Zettel. Die eine Nummer sagte mir nichts, die andere zuviel.
«Er hat mit Arne telefoniert«, sagte ich.
Ich klingelte an Arnes Wohnungstür, und nach einiger Zeit machte mir Kari auf.
«David. «Sie schien weder überrascht noch erfreut, mich zu sehen. Sie machte einen vollkommen erschöpften Eindruck.
«Komm herein«, sagte sie.
Die Wohnung erschien mir irgendwie kälter, weniger lebendig, sehr viel stiller als beim letzten Mal.
«Wo ist Arne?«fragte ich.
«Er ist weg.«
«Wohin?«
«Das weiß ich nicht.«
«Erzähl mir genau, was er gemacht hat, nachdem er nach Hause gekommen war.«
Sie sah mich mit leerem Blick an, wandte sich dann ab und ging durchs Wohnzimmer. Ich folgte ihr. Sie setzte sich auf das cremefarbene Sofa und zitterte. Der Ofen brannte nicht mehr warm und anheimelnd, und der Plattenspieler war abgestellt.
«Er kam nach Hause und war ganz durcheinander. Nun ja, er ist eigentlich schon durcheinander, seit diese Geschichte mit Bob Sherman angefangen hat. Aber heute war er sehr beunruhigt, verwirrt und aus dem Gleichgewicht. Er hörte sich zwei Langspielplatten an und lief umher. er konnte einfach nicht stillsitzen.«
Ihre Stimme war so ruhig wie die eines Menschen, der einen
Schock erlitten hat. Die Wirklichkeit dessen, was geschehen war, hatte sie noch nicht eingeholt und in Wut, Angst oder Verzweiflung versetzt — aber morgen, dachte ich, morgen könnten diese Gefühle alle auf einmal über sie hereinbrechen.
«Er rief zweimal bei Per Bj0rn Sandvik zu Hause an, aber dort sagte man ihm, er sei nicht da. Das schien ihn sehr zu beunruhigen.«
Auf dem Couchtisch stand ein Tablett mit einem Teller belegter Brote. Bei ihrem Anblick überfiel mich ein wahnsinniger Hunger, denn ich hatte seit meinem winzigen Frühstück nichts mehr gegessen, aber Kari warf nur einen gleichgültigen Blick darauf und sagte:»Er hat sie liegenlassen. Er meinte, er könnte keinen Bissen.«
Versuch’s mal bei mir, dachte ich — aber sie hatte anderes im Kopf, als mich gastlich zu bewirten.
«Dann rief Per Bj0rn Sandvik hier an. Erst vor einer kleinen Weile. aber es scheint schon viele Stunden her zu sein. Zunächst war Arne erleichtert, aber dann. wurde er so still. ich wußte, da stimmt etwas nicht.«
«Was hat er zu Per Bj0rn gesagt? Kannst du dich noch daran erinnern?«
«Er sagte ja und nein. Er hörte lange zu. Er sagte. ich glaube, er sagte. >Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde ihn finden.««
«War das alles?«
Sie nickte.»Dann ging er ins Schlafzimmer und war ganz still. da ging ich zu ihm, um zu sehen, was los war. Er saß auf dem Bett und sah zu Boden. Als ich hereinkam, blickte er zu mir auf. Seine Augen waren. ich weiß nicht. tot.«
Читать дальше