Er hatte gelesen, dass Missionaren von Zeit zu Zeit ein längerer Heimaturlaub zugebilligt wurde, der ihnen Gelegenheit geben sollte, zu Hause neue Kraft für ihre Aufgabe zu schöpfen. Warum konnte Rachel nicht jetzt einen solchen Urlaub antreten, in die Vereinigten Staaten zurückfliegen - vielleicht sogar mit ihm zusammen - und so lange dort bleiben, bis die Angelegenheiten ihres Vaters geklärt waren? Er würde es ihr vorschlagen, falls es ihm je vergönnt war, ihr zu begegnen. Es schien ihm das mindeste, was sie für elf Milliarden tun konnte.
Ein lautes Krachen ertönte, und Nate wurde zu Boden geschleudert. Sie saßen im Ufergehölz fest.
Die kiellose, flachbödige Santa Loura war wie alle Boote im Pantanal dafür gebaut, über Sandbänke zu gleiten und die Stöße zu ertragen, die das Treibgut im Fluss ihr zufügen mochte. Als das Unwetter vorüber war, ließ Jevy die Maschine wieder anlaufen und bewegte das Boot eine halbe Stunde lang vor- und rückwärts, womit er es allmählich aus dem Sand und Schlamm am Ufer hinausmanövrierte. Als es wieder frei war, beseitigten Welly und Nate Buschwerk und Äste, die sich auf dem Deck angesammelt hatten, und durchsuchten das Innere des Bootes gründlich. Zum Glück fanden sie keine neuen Passagiere, weder Schlangen noch jacares. In einer kurzen Kaffeepause erzählte Jevy von einer Anakonda, die vor Jahren ihren Weg an Bord gefunden und einen schlafenden Matrosen angegriffen hatte.
Nate sagte, Schlangengeschichten höre er nicht besonders gern. Danach suchte er besonders langsam und gründlich weiter.
Nachdem sich die Wolken verzogen hatten, hing ein schöner Halbmond über dem Fluss. Welly machte Kaffee. Nach dem Toben des Gewitters schien das Pantanal gewillt, in völliger Ruhe dazuliegen. Der Fluss war glatt wie ein Spiegel. Der Mond zeigte ihnen den Weg, verschwand, wenn der Paraguay eine Biegung machte, war aber gleich wieder da, sobald es nordwärts ging.
Nate hatte sich gründlich an das Leben in Brasilien gewöhnt und daher seine Armbanduhr abgelegt. Die genaue Zeit spielte keine Rolle. Es war schon spät, vermutlich Mitternacht. Regen und Sturm hatten mehrere Stunden hindurch gewütet.
Nate schlief einige Stunden in der Hängematte und erwachte beim Morgengrauen. Jevy schnarchte auf seiner Koje in der winzigen Kajüte hinter dem Ruderhaus. Welly steuerte das Boot im Halbschlaf. Nate schickte ihn Kaffee machen und übernahm das Ruder selbst.
Erneut waren Wolken aufgezogen, doch schien es nicht regnen zu wollen. Infolge des Gewitters vom Vorabend führte der Fluss zahlreiche Äste und Laub mit sich. Da er breit war und keinerlei Schiffsverkehr herrschte, erteilte Kapitän Nate dem Leichtmatrosen Welly den Befehl, sich eine Weile in die Hängematte zu legen, während er das Steuer übernahm.
Es war tausendmal besser als im Gerichtssaal. Mit nacktem Oberkörper und bloßen Füssen schlürfte er Kaffee, während er eine Expedition ins Innere des größten Schwemmlandgebietes der Erde leitete. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere war er immer unterwegs zu irgendeiner Verhandlung gewesen, hatte mit zehn Bällen gleichzeitig jongliert und in jeder Tasche ein Telefon gehabt. Nichts von dem fehlte ihm jetzt. Kein Anwalt, der bei klarem Verstand ist, sehnt sich nach einem Gerichtssaal, aber zugeben würde er es unter keinen Umständen.
Das Boot steuerte sich praktisch selbst. Mit Jevys Glas hielt er Ausschau nach jacares, Schlangen und capivaras am Ufer. Außerdem versuchte er die Schlangenhalsvögel mit weißem Rumpf und braunem Kopf zu zählen, die ihm geradezu ein Symbol des Pantanal zu sein schienen. Zwölf von ihnen standen reglos auf einer Sandbank und sahen das Boot vorüberziehen.
Der Kapitän und seine schläfrige Besatzung fuhren nordwärts, während sich der Himmel rosa färbte und der Tag begann. Tiefer und tiefer ging es ins Pantanal. Wohin ihre Reise sie führen würde, war alles andere als sicher.
Neva Collier koordinierte bei World Tribes Mission die Arbeit der nach Südamerika entsandten Mitarbeiter. Sie war in einem Iglu in Neufundland zur Welt gekommen, wo ihre Eltern zwanzig Jahre lang unter den Eskimos gearbeitet hatten. Sie selbst hatte elf Jahre in den Bergen Neuguineas Missionsarbeit geleistet und kannte daher aus eigener Anschauung die Schwierigkeiten und Herausforderungen, mit denen die rund neunhundert Menschen zu kämpfen hatten, für die sie zuständig war.
Außer ihr wusste niemand, dass Rachel Porter Troy Phelans uneheliche Tochter war und ursprünglich Lane geheißen hatte. Nach ihrem Medizinstudium hatte Rachel einen anderen Namen angenommen, um sich soweit wie möglich von ihrer Vergangenheit zu lösen. Nach dem Tod ihrer Adoptiveltern hatte sie keinerlei Angehörige, weder Geschwister noch Tanten, Onkel, Vettern oder Kusinen. Jedenfalls wusste sie von niemandem. Es gab lediglich Troy, und ihn bemühte sie sich nach Kräften aus ihrem Leben herauszuhalten. Erst nach dem Abschluss ihres Studiums am Missionsseminar hatte sie Neva Collier die Einzelheiten ihres Privatlebens anvertraut.
Der Führungsspitze der Organisation war bekannt, dass es in Rachels Leben Geheimnisse gab, doch war ihnen zugleich bekannt, dass diese ihrem Streben, Gott zu dienen, nicht im Wege standen. Sie war Ärztin, hatte mit Erfolg die Missionarausbildung abgeschlossen und war als ergebene und demütige Dienerin Christi bereit, in der Mission zu arbeiten. Man versprach ihr, niemandem Auskunft über sie zu erteilen, auch nicht, in welchem Teil Südamerikas sie sich aufhielt.
Jetzt las Neva in ihrem kleinen, aufgeräumten Büro in Houston den erstaunlichen Bericht über die Eröffnung von Mr. Phelans Testament. Seit dem Bericht über seinen Selbstmord hatte sie die Angelegenheit in der Presse verfolgt.
Mit Rachel Kontakt aufzunehmen kostete Zeit. Zweimal jährlich, im März und im August, schrieben sie einander, und gewöhnlich rief Rachel einmal im Jahr aus einer Telefonzelle in Corumba an, wenn sie dort einkaufte, was sie an Medizin und dergleichen brauchte. Neva hatte im vergangenen Jahr mit ihr gesprochen. Zum letzten Mal war Rachel 1992 in den Staaten gewesen. Sie hatte ihren Urlaub nach sechs Wochen abgebrochen und war ins Pantanal zurückgekehrt. Sie könne dem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten nichts abgewinnen und fühle sich dort nicht zu Hause, hatte sie Neva anvertraut. Sie gehöre zu den Menschen, unter denen sie auch sonst lebte.
Danach zu urteilen, was die Anwälte in der Zeitung von sich gaben, war die Nachlassangelegenheit im Falle Phelan alles andere als endgültig geklärt. Neva nahm sich vor, dem Vorstand zu gegebener Zeit mitzuteilen, wer Rachel in Wirklichkeit war.
Vielleicht aber war das gar nicht nötig, hoffte sie. Wie verheimlicht man elf Milliarden Dollar, fragte sie sich. Niemand hatte wirklich damit gerechnet, dass sich die Anwälte über einen Treffpunkt einigen würden. Jede Kanzlei bestand darauf, selbst den Ort für das Gipfeltreffen zu bestimmen. Es war bereits mehr als beachtlich, dass sie sich so kurzfristig geeinigt hatten, überhaupt zusammenzutreffen.
Schließlich fand die Ve rsammlung im Hotel Ritz in Tysons Corner statt, in einem Bankettsaal, dessen Tische man in aller Eile zu einem Quadrat zusammengerückt hatte. Als sich die Tür endlich schloss, befanden sich an die fünfzig Menschen im Saal, denn jede Kanzlei hatte sich verpflichtet gefühlt, weitere Anwälte, Anwaltsgehilfen und sogar Sekretärinnen mitzubringen, um den anderen zu imponieren.
Die Spannung ließ sich fast mit Händen greifen. Da die Rechtsvertreter unter sich sein wollten, war von der Familie Phelan niemand anwesend.
Hark Gettys bat um Ruhe und erzählte einen sehr lustigen Witz. Das war eine gute Idee. Wie in einem Gerichtssaal, wo jeder nervös und besorgt ist und nicht mit einem Spaß rechnet, wirkte das laute Gelächter befreiend. Danach schlug er vor, dass für jeden der Phelan-Erben einer der Anwälte rund um den Tisch sagen sollte, was er oder sie jeweils auf dem Herzen hatte. Er selbst werde als letzter das Wort ergreifen.
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