Am Spätnachmittag blieb Nate vor dem Schaufenster eines kleinen Feinkostladens stehen, der sich einige Querstraßen vom Hotel entfernt befand. Bei seinem ziellosen Umherspazieren hatte er gesehen, dass der Laden geöffnet war, und er ging hinein, weil er dort Bier zu bekommen hoffte. Nur eine Dose, vielleicht zwei. Er befand sich allein auf der anderen Seite der Erdkugel, ohne mit jemandem Weihnachten feiern zu können. Eine Welle der Einsamkeit und Niedergeschlagenheit durchflutete ihn, und in einem Anfall von Selbstmitleid gab er nach.
Er sah die Reihen von Flaschen mit harten Getränken, alle voll und ungeöffnet. Whisky, Gin und Wodka der verschiedensten Sorten standen aufgereiht wie hübsche kleine Soldaten in bunten Uniformen in den Regalen. Sein Mund wurde von einem Augenblick auf den anderen trocken, war wie ausgedörrt. Sein Unterkiefer fiel herab, und die Augen schlössen sich. Er hielt sich an der Theke fest, weil ihm schwindelig wurde. Sein Gesicht verzog sich qualvoll beim Gedanken an Sergio in Walnut Hill, an Josh, seine Ex-Frauen und die anderen Menschen, die unter seinen häufigen Rückfällen gelitten hatten. Wild tobten die Gedanken durch seinen Kopf, und er war einem Ohnmachtsanfall nahe, als der Mann hinter der Theke etwas sagte. Nate sah ihn zornig an, biß sich auf die Lippe und wies auf den Wodka. Zwei Flaschen, acht Reais.
Jeder Rückfall war anders gewesen. Manche hatten sich ganz langsam entwickelt: ein Glas hier, ein Schlückchen da, ein Riß im Deich, auf den weitere folgten. Einmal war er sogar selbst mit dem Auto in eine Entgiftungsklinik gefahren. Ein anderes Mal war er, mit einen intravenösen Schlauch im Handgelenk, auf ein Krankenhausbett geschnallt gewesen, als er zu sich kam. Beim letzten Mal hatte ihn ein Zimmermädchen in einem billigen Motel zu dreißig Dollar die Nacht im Koma gefunden.
Er packte die Papiertüte und eilte zielstrebig seinem Hotel entgegen. Er ging um eine Gruppe schwitzender kleiner Jungen herum, die auf dem Bürgersteig Fußball spielten. Glückliche Kinder, dachte er. Unbekümmert, ohne Sorgen. Morgen ist nur ein weiteres Spiel.
Eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit erwachte Corumba allmählich zum Leben. Die Straßencafes und Kneipen öffneten, und vereinzelt fuhren Autos auf der Straße. Von der Hotelhalle aus hörte man die Musikkapelle, die am Schwimmbecken spielte, und einen Augenblick lang war Nate versucht, sich an einen Tisch zu setzen und noch ein wenig zuzuhören.
Aber das tat er nicht. Er suchte sein Zimmer auf, verschloss die Tür und füllte einen großen Kunststoffbecher mit Eis. Er stellte die beiden Flaschen Wodka nebeneinander, öffnete eine, goss den Inhalt langsam über das Eis und
gelo bte sich, erst aufzuhören, wenn beide leer waren.
Jevy wartete schon vor der Tür des Ersatzteilhändlers, als dieser um acht Uhr eintraf. Die Sonne stand am wolkenlosen Himmel. Die Hitze des Bürgersteigs drang ihm durch die Schuhsohlen.
Der Händler, der keine passende Ölpumpe hatte, rief zwei mögliche Lieferanten an, und Jevy fuhr in seinem dröhnenden Pickup davon. Am Rande von Corumba hatte ein Bootshändler einen Schrottplatz mit den Resten von Dutzenden abgewrackter Wasserfahrzeuge. Ein Junge brachte Jevy eine in einen schmuddeligen Putzlappen eingewickelte Ölpumpe, die mit Schmierfett und Öl bedeckt war. Bereitwillig zahlte Jevy zwanzig Reais dafür.
Er fuhr zum Fluss und stellte den Wagen nahe dem Ufer ab. Die Santa Loura lag noch an derselben Stelle wie am Vorabend. Voll Freude sah er, dass Welly schon da war. Er arbeitete zum ersten Mal mit dem nicht einmal achtzehnjährigen Jungen, der von sich behauptete, er besitze die Fähigkeiten eines Kochs, eines Lotsen, eines Bootsführers und eines Navigators. Außerdem könne er das Boot sauberhalten und alle anderen gewünschten Dienste leisten.
Es war Jevy klar, dass er log, andererseits war diese Art von Aufschneiderei unter jungen Männern, die am Fluss nach Arbeit suchten, nichts Besonderes.
»Hast du Mr. O'Riley gesehen?« fragte Jevy.
»Ist das der Amerikaner?« erkundigte sich Welly.
»Ja.«
»Nein. Der ist hier nicht aufgetaucht.«
Ein Fischer in einem Holzboot rief Jevy etwas zu, der aber hatte andere Sorgen. Er sprang über die Sperrholzplanke auf das Boot, wo das Gehämmer im Heck wieder angefangen hatte. Derselbe verschmierte Mechaniker kämpfte mit dem Motor, sein schweißnasser Oberkörper steckte tief im Maschinenraum. Die Luft war zum Ersticken. Jevy gab ihm die Ölpumpe, und er fuhr mit seinen kurzen Wurstfingern prüfend darüber.
Der Motor war ein Fünf-Zylinder-Reihendiesel, und die Pumpe saß ganz unten im Kurbelgehäuse, unmittelbar unter dem Gitterboden. Der Mechaniker zuckte die Achseln, als könne die von Jevy beschaffte Pumpe in der Tat die Lösung sein, wand dann den Bauch um den Ansaugkrümmer herum, ließ sich vorsichtig auf die Knie nieder und beugte sich so weit vor, dass sein Kopf auf dem Auspuffrohr lag.
Er knurrte etwas, und Jevy gab ihm einen Schraubenschlüssel. Der Einbau der Ersatzpumpe machte Fortschritte. Jevys Hemd und Shorts waren binnen zehn Minuten schweißdurchnässt.
Nach einer Weile tauchte Welly auf und fragte, ob man ihn brauche. Da das nicht der Fall war, forderte Jevy ihn auf, Ausschau nach dem Amerikaner zu halten, und wischte sich in der Enge des Maschinenraums den Schweiß von der Stirn.
Fluchend hantierte der Mechaniker eine halbe Stunde lang mit seinen Schraubenschlüsseln, dann bezeichnete er die Pumpe als einsatzbereit. Er ließ den Motor anlaufen und hielt einige Minuten lang den Blick auf den Öldruckanzeiger gerichtet. Nach einer Weile sammelte er lächelnd sein Werkzeug ein.
Jevy fuhr in die Stadt, um Nates Hotel aufzusuchen.
Die schüchterne junge Frau am Empfang hatte Mr. O'Riley nicht gesehen. Sie rief in seinem Zimmer an, doch niemand meldete sich. Ein vorüberkommendes Zimmermädchen wurde gefragt und erklärte, soweit sie wisse, habe er sein Zimmer noch nicht verlassen. Zögernd gab die junge Frau Jevy einen Schlüssel.
Die Tür war verschlossen, doch Nate hatte die Kette nicht vorgelegt. Während Jevy langsam eintrat, fiel ihm auf, dass das zerwühlte Bett leer war. Dann sah er die Flaschen. Eine war leer und lag umgestürzt auf dem Fußboden. Die andere war noch zur Hälfte gefüllt. Im Zimmer war es sehr kühl, da die Klimaanlage auf vollen Touren lief.
Jevy sah einen nackten Fuß und entdeckte, als er näher trat, dass Nate vollständig unbekleidet zwischen der Wand und dem Bett lag. Er hatte ein Laken heruntergezogen und sich um die Knie gewickelt. Als Jevy ihn vorsichtig am Fuß anstieß, zuckte das Bein.
Zumindest war der Mann nicht tot.
Jevy sprach ihn an und fasste ihn an der Schulter. Nach einigen Sekunden hörte er ein leises gequältes Knurren. Er hockte sich auf das Bett, verschränkte die Hände vorsichtig unter einer der Achseln und zog Nate vom Boden hoch. Es gelang ihm, ihn von der Wand fort auf das Bett zu rollen. Rasch verhüllte er Nates Geschlechtsteile mit einem Laken.
Ein weiteres gequältes Stöhnen ertönte. Nate lag auf dem Rücken, ein Fuß hing aus dem Bett, seine nach wie vor geschlossenen Augen waren geschwollen. Das Haar hing ihm wirr um den Kopf, der Atem kam langsam und mühevoll. Jevy stellte sich ans Fußende des Bettes und sah ihn an.
Das Zimmermädchen und die junge Frau vom Empfang tauchten vor der angelehnten Tür auf, und Jevy winkte sie fort. Er schloss ab und nahm die leere Flasche vom Boden auf.
»Es ist Zeit aufzubrechen«, sagte er, bekam aber keinerlei Antwort. Vielleicht sollte er Senhor Ruiz anrufen, der dann den Amerikanern Bescheid geben konnte, die den armen Säufer nach Brasilien geschickt hatten. Vielleicht später.
»Sagen Sie etwas, Nate!« forderte er ihn laut auf.
Er bekam keine Antwort. Falls der Mann nicht bald zu sich kam, würde Jevy einen Arzt rufen. Eineinhalb Flaschen Wodka konnten einen Menschen umbringen. Vielleicht litt Nate an einer Alkoholvergiftung und musste ins Krankenhaus.
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