Er stellt uns vor. Ich stehe rasch auf, lächle kurz, dann setze ich mich wieder und lasse mein Gesicht wieder in einem intelligenten Stirnrunzeln erstarren. Smoot redet über Gesundheitsvorsorge, Haushaltskürzungen, Testamente, Befreiung von der Mehrwertsteuer, mißhandelte Gruftis und Versicherungen mit Selbstbehalt. Die Leute fallen um wie die Fliegen. Schlupflöcher in der Sozialversicherung, schwebende Gesetzesverfahren, Vorschriften für Pflegeanstalten, Nachlaßplanung, Wunderdrogen, er kommt vom Hundertsten ins Tausendste, genau wie bei seinen Vorlesungen. Ich gähne und fühle mich ebenfalls schläfrig. Bosco schaut alle zehn Sekunden auf seine Uhr.
Schließlich kommt Smoot aber doch zum Ende, dankt abermals Miss Birdie und ihren Leuten, verspricht, Jahr für Jahr wiederzukommen, und läßt sich dann am Ende des Tisches nieder. Miss Birdie klatscht zweimal in die Hände, dann gibt sie es auf. Niemand sonst regt sich. Die Hälfte von ihnen schnarcht.
Miss Birdie schwenkt die Arme in unsere Richtung und sagt zu ihren Schäfchen:»Da sind sie. Sie sind gut, und es kostet nichts.«
Langsam und verlegen bewegen sie sich auf uns zu. Bosco ist der erste in der Schlange, und es ist offensichtlich, daß er sauer ist wegen der Götterspeise, denn er funkelt mich an, geht zum anderen Ende des Tisches und setzt sich auf einen Stuhl vor der Ehrenwerten N. Elizabeth Erickson. Irgend etwas sagt mir, daß er nicht der letzte künftige Mandant ist, der juristischen Rat bei jemand anderem suchen wird. Ein älterer Schwarzer erwählt Booker zu seinem Anwalt, und sie stecken über dem Tisch die Köpfe zusammen. Ich versuche, nicht zuzuhören. Irgend etwas über eine Ex-Ehefrau und eine Scheidung vor vielen Jahren, die vielleicht vollzogen wurde oder auch nicht. Booker macht sich Notizen wie ein richtiger Anwalt und hört aufmerksam zu, als wüßte er genau, was er zu tun hat.
Wenigstens hat Booker einen Mandanten. Volle fünf Minuten komme ich mir ausgesprochen dämlich vor. Ich sitze allein da, während meine drei Mitstudenten flüstern und kritzeln, aufmerksam zuhören und angesichts der sich vor ihnen entfaltenden Probleme die Köpfe schütteln.
Meine Einsamkeit bleibt nicht unbemerkt. Schließlich greift Miss Birdie in ihre Handtasche, holt einen Umschlag heraus und trippelt zu meinem Ende des Tisches.»Sie sind es, mit dem ich reden wollte«, flüstert sie und rückt ihren Stuhl dicht an die Tischecke heran. Sie beugt sich vor, und ich lehne mich nach rechts, und in genau diesem Moment, in dem unsere Köpfe nur Zentimeter voneinander entfernt sind, beginnt meine erste Konferenz als juristischer Berater. Booker wirft mir einen boshaften Blick zu.
Meine erste Konferenz. Vorigen Sommer habe ich für eine kleine Kanzlei in der Innenstadt gearbeitet, zwölf Anwälte, und ihre Arbeit wurde strikt nach Stunden abgerechnet. Keine Erfolgshonorare. Ich lernte die Kunst des In-Rechnung-Stel-lens, deren erste Regel besagt, daß ein Anwalt einen Großteil seiner wachen Stunden in Konferenzen verbringt. Konferenzen mit Mandanten, Telefonkonferenzen, Konferenzen mit gegnerischen Anwälten, Richtern, Partnern, Schadensregulie-rern, Schreibern und Anwaltsgehilfen, Konferenzen beim Lunch, Konferenzen im Gericht, Konferenztelefonate, Vergleichskonferenzen, Konferenzen bei Vorverhandlungen und nach Abschluß eines Verfahrens. Einerlei, um was es sich handelt — Anwälte können es in eine Konferenz ummünzen.
Miss Birdie läßt den Blick herumschweifen, und das ist für mich das Signal, sowohl meine Stimme als auch meinen Kopf zu senken, denn das, worüber sie mit mir zu reden gedenkt, ist eine todernste Angelegenheit. Und das kann mir nur recht sein, weil ich nicht möchte, daß auch nur eine Menschenseele die lahmen und naiven Ratschläge hört, mit denen ich auf ihr bevorstehendes Problem reagieren werde.
«Lesen Sie das«, sagt sie, und ich nehme den Umschlag und öffne ihn. Halleluja! Es ist ein Testament! Letzter Wille und Testament von Colleen Janiece Barrow Birdsong. Smoot hat uns gesagt, daß mehr als die Hälfte dieser Mandanten uns bitten würde, ihre Testamente zu überprüfen und eventuell auf den neuesten Stand zu bringen, und das kann uns nur recht sein, weil wir im vergangenen Jahr eine Pflichtvorlesung über Testamente und Nachlaßregelungen absolviert haben und uns auf dem Gebiet halbwegs kompetent fühlen. Testamente sind ziemlich simple Dokumente und können sogar von den allergrünsten Anwälten fehlerfrei aufgesetzt werden.
Dies hier ist getippt und macht einen amtlichen Eindruck, und als ich es überfliege, erfahre ich aus den ersten beiden Absätzen, daß Miss Birdie Witwe ist und zwei Kinder und eine Menge Enkelkinder hat. Der dritte Absatz verschlägt mir die Sprache, und während ich ihn lese, sehe ich sie an. Dann lese ich ihn noch einmal. Sie lächelt befriedigt. Der Text weist ihren Nachlaßverwalter an, jedem ihrer Kinder die Summe von zwei Millionen Dollar auszuhändigen und für jedes ihrer Enkelkinder eine Million als Treuhandvermögen anzulegen. Ich zähle, langsam, acht Enkelkinder. Das macht mindestens zwölf Millionen Dollar.
«Lesen Sie weiter«, flüstert sie, als könnte sie das Rattern der
Rechenmaschine in meinem Gehirn hören. Bookers Mandant, der alte Schwarze, weint jetzt; es hat etwas mit einer Romanze zu tun, die Vorjahren schiefgelaufen ist, und mit Kindern, die sich nicht um ihn gekümmert haben. Ich versuche, nicht hinzuhören, aber es ist unmöglich. Booker macht sich hektisch Notizen und versucht, die Tränen zu ignorieren. Am anderen Ende des Tisches lacht Bosco laut auf.
Absatz fünf des Testaments vermacht drei Millionen Dollar einer Kirche und zwei Millionen einem College. Dann folgt eine Liste von wohltätigen Institutionen, die mit der Diabetes Association anfängt und mit dem Zoo von Memphis aufhört, und neben jedem Namen steht eine Summe, von denen die niedrigste fünfzigtausend Dollar ist. Ich runzele auch weiterhin die Stirn, stelle eine schnelle Berechnung an und komme zu dem Schluß, daß Miss Birdie mindestens zwanzig Millionen besitzt.
Plötzlich steckt dieses Testament voller Probleme. Erstens und vor allem ist es bei weitem nicht so ausführlich, wie es sein sollte. Miss Birdie ist reich, und reiche Leute hinterlassen keine simplen, mageren Testamente. Sie hinterlassen dicke, verklausulierte Testamente mit Treuhandvermögen und Treuhandverwaltern und Generationen überspringenden Vermächtnissen und allen möglichen Tricks und Schlichen, die sich teure Steueranwälte in großen Firmen ausgedacht und zu Papier gebracht haben.
«Wer hat dieses Testament aufgesetzt?«frage ich. Der Umschlag ist kahl, und es gibt nirgends einen Hinweis, wer das Testament verfaßt hat.
«Mein früherer Anwalt, aber der lebt nicht mehr.«
Gut für ihn, daß er tot ist. Er hat sträflich versagt, als er dieses Testament aufsetzte.
Also ist diese hübsche kleine Dame mit den grauen und gelben Zähnen und der melodischen Stimme mindestens zwanzig Millionen Dollar schwer. Und allem Anschein nach hat sie keinen Anwalt. Ich werfe einen Blick auf sie, dann wende ich mich wieder dem Testament zu. Sie hat keine teuren Sachen an, trägt keine Diamanten, vergeudet weder Zeit noch Geld auf ihre Frisur. Ihr Kleid ist aus bügelfreier Baumwolle, und der burgunderrote Blazer ist abgetragen und könnte von Sears stammen. Mir sind im Laufe der Zeit einige reiche alte Damen über den Weg gelaufen, und normalerweise sind sie auf den ersten Blick zu erkennen.
Das Testament ist fast zwei Jahre alt.»Wann ist Ihr Anwalt gestorben?«frage ich jetzt zuckersüß. Unsere Köpfe sind nach wie vor gesenkt und unsere Nasen nur Zentimeter voneinander entfernt.
«Voriges Jahr. Krebs.«
«Und im Augenblick haben Sie keinen Anwalt?«
«Würde ich hier sitzen und mit Ihnen reden, Rudy, wenn ich einen hätte? Ein Testament ist eine ziemlich simple Angelegenheit, also dachte ich, Sie kämen damit zurecht.«
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