Die Luft war feucht und frisch, als sie den Wald betraten, und Barnaby spürte ziemlich rasch eine Veränderung. Als sich das Blätterdach über ihnen schloß, stieg ihm ein satter, modriger Geruch, den die üppige Vegetation verbreitete, in die Nase.
Miss Bellringer ging voran und zeigte ihm den Weg. Sie trug einen Jagdstuhl und hielt sich immer in der Nähe des Chief Inspector, ganz wie er sie angewiesen hatte. »Ich glaube, es ist gleich da drüben bei der Nieswurz. Ja - da ist die Stelle.«
»Warten Sie.« Barnaby ergriff ihren Arm. »Wenn Sie bitte hier stehenbleiben würden. Je weniger wir hier herumtrampeln, um so besser.«
»Ich verstehe.« Sie klang enttäuscht, folgte jedoch gehorsam seiner Aufforderung, klappte ihren Jagdstuhl auf und hockte sich auf den Leinenstreifen. Sie rief: »Mehr nach links« und »Ja, wärmer, wärmer« und »Heiß, ganz heiß«, während er vorsichtig den Fleck mit den kleinen Blumen suchte. Dann, als sie sah, daß er sich bückte, fragte sie: »Sie sind wunderschön, nicht wahr?«
Barnaby studierte die Orchideen und den kleinen Stock mit dem roten Band. Die reglose Markierung wirkte eigenartigerweise lebendiger als die blassen Blumen. Es war etwas Rührendes an dem mit einer ordentlichen Schleife verknoteten Band. Barnaby richtete sich auf und schaute sich um. Soweit er es überblicken konnte, lag überall halb verrottetes Laub in der unmittelbaren Umgebung. An manchen Stellen war es ein wenig aufgewühlt, vielleicht von Kaninchen oder anderen kleinen Tieren, aber ansonsten schien es keine Spuren zu geben.
Links von ihm war dichtes grünes Gestrüpp. Er richtete den Blick auf den Boden. Da waren zwei ziemlich deutliche Vertiefungen, die verrieten, daß dort kürzlich jemand für eine gewisse Zeit gestanden hatte. Er erkannte auch die Stelle, wo sich der breitere Teil der Schuhe befunden hatte. Er stellte sich parallel daneben und spähte durch die Zweige.
Da war eine Mulde. Eine ziemlich große Fläche war platt gedrückt: Glockenblumen und Farnblätter waren geknickt und lagen auf dem Boden. Barnaby umrundete das Dickicht und kauerte am Rand der Mulde nieder, um den Boden genauer zu betrachten. Irgend jemand oder etwas mußte hier alles niedergewalzt haben. Auf dem Weg zurück zu Miss Bellringer fiel ihm noch eine Delle im Erdboden auf - sie hatte keine deutlichen Umrisse, sah aber aus, als hätte hier ein dicker Ast oder etwas ähnlich Schweres gelegen.
»Danke, daß Sie mir den Weg gezeigt haben.«
Es war ein gutes Gefühl, die dichtstehenden Bäume hinter sich zu lassen und aufs offene Gelände zu kommen. Kiebitze zogen am hellen, sonnigen Himmel ihre Kreise.
»Möchten Sie morgen abgeholt werden, damit Sie die Leiche identifizieren können, Miss Bellringer?« fragte Barnaby noch.
»O nein, das ist nicht nötig. Es gibt ein Taxi im Dorf. Ich komme gut auch so zurecht.«
Als sie sich Miss Simpsons Cottage näherten, entdeckten sie, daß der wachsame Sergeant Troy inzwischen von einer kleinen, aber ehrfurchtsvollen Gruppe umringt war. Barnaby verabschiedete sich von Miss Bellringer und überquerte die Straße. Sofort liefen die jüngsten der Kinder auf ihn zu.
»Warum steht der da wie ein Wachhund?«
»Ist der da auch ein Polizist?«
»Sie sind doch von der Polizei, oder?«
»Wieso hat er keine Uniform an?«
»Los, ihr Gören«, zischte Troy durch die zusammengebissenen Zähne, »geht einfach weiter. Hier gibt’s nichts zu sehen.« Die Kinder nahmen den Befehl nicht ernst und blieben, wo sie waren.
»Ich schicke Ihnen eine Ablösung, Troy.«
»Ich habe in einer halben Stunde Dienstschluß.«
»Schon gut, Sergeant, spätestens um fünf werden Sie abgelöst.« Ein junges Mädchen mit einem Kleinkind an der Hand und einem Baby in einem Kinderwagen gesellte sich zu den anderen. Barnaby grinste. »Bis dahin wird hier die Hölle los sein.«
Die gerichtliche Anhörung am nächsten Tag nahm kaum Zeit in Anspruch. Die sterblichen Überreste von Emily Simpson, die Lucy Bellringer kurz zuvor identifiziert hatte, wurden für die Bestattung freigegeben. Der Gerichtsdiener verlas den Bericht des Pathologen, dann wurde die Sitzung vertagt, weil man die Ergebnisse weiterer polizeilicher Ermittlungen abwarten mußte.
1
Barbara Lessiter ging zu dem Drehspiegel in der Ecke ihres Schlafzimmers. Sie hatte alle Lichter bis auf die Leuchte mit der Elfenbeinschnitzerei neben ihrem Bett ausgeschaltet. Die Lampe mit dem apricotfarbenen Schirm warf einen warmen Schein auf ihr Nachthemd und die im Solarium gebräunte Haut. Sie tauchte ihre Fingerspitzen in einen Tiegel und verteilte die nach Erdbeeren duftende Creme auf ihrem Hals bis zum Kinn und auf dem Brustansatz. Sie massierte ihr Dekollete und schloß lächelnd die Augen. Dann cremte sie mit beiden Händen ihr Gesicht ein. Zum Schluß verteilte sie Öl um die Augen - es kam aus Frankreich, kostete fünfundvierzig Pfund pro Fläschchen und reichte nicht lange aus.
Sie liebte dieses Ritual. Schon als junges Mädchen - lange bevor es not tat - hatte sie mit Hingabe geschmiert, massiert, getätschelt und getupft. Auch jetzt noch war es keine unbedingte Notwendigkeit, sagte sie sich und warf in der Sicherheit des sanften Lichts einen Blick in den Spiegel.
Nachdem sie mit ihrem Gesicht fertig war, bürstete sie ihr Haar: fünfzig Bürstenstriche vom Scheitel bis zu den Spitzen. Ihr rotbraunes Haar schimmerte und glänzte so sehr, wie man es bei einer regelmäßigen Behandlung mit Henna, Eigelb und Spülungen erwarten konnte. Sie warf den Kopf zurück und lächelte wieder.
Bei der ruckartigen Bewegung rutschte ein Nachthemdträger von ihrer Schulter. Sie beugte sich näher zum Spiegel und berührte ihre nackte Brust, strich über die kleinen rotblauen Flecken und lachte in wollüstiger Erinnerung. Plötzlich richtete sie sich auf und horchte.
Jemand näherte sich der Tür. Sie hielt die Luft an. Ein Klopfen. Es klang zaghaft, geradezu schüchtern. Sie wartete und bedeckte ihre Blößen, als wäre die Tür durchsichtig. Nach einer Minute hörte sie schlurfende Schritte, die sich entfernten. Sie atmete ein paarmal ganz tief durch. Das nächste Mal würde sie ihn hereinlassen müssen. Es war schon Ewigkeiten her, und er war eigentlich sehr gut zu ihr gewesen. Aber, lieber Gott, was für ein Kontrast das wäre ...
Sie war in Uxbridge als Barbara Wheeler »irgendwann in den späten fünfziger Jahren« geboren worden, wie sie den Leuten mit gespielter Scheu weismachte. Ihr Vater war Vorarbeiter beim Eisenbahnbau, ihre Mutter plagte sich mit dem Haushalt. Sie hatte noch fünf Geschwister, und Barbara war die einzige, die zur Schönheit herangewachsen war. Die ganze Familie war in einem winzigen Häuschen direkt an der Straße zusammengepfercht gewesen. Barbara hatte sich mit ihren beiden Schwestern, die inzwischen auch Sklavinnen ihrer eigenen Haushalte geworden waren, ein Badezimmer geteilt und den geringen ihr zur Verfügung stehenden Platz und ihre Habseligkeiten mit Zähnen und Klauen verteidigen müssen. Sie hatte sich über die billigen Klamotten und Kosmetika ihrer Schwestern lustig gemacht und die Nase gerümpft, wenn sie sich mit Duftwässerchen von Woolworth's einsprühten. Mit fünfzehn hatte sie angefangen zu stehlen - Cremes, Parfüm und Lotionen - und die Preisschilder abgemacht. Sie wußte genau, daß niemand zu Hause je von diesen Markenartikeln gehört hatte.
Ihre Schwestern waren Arbeiterinnen in der örtlichen Süßwarenfabrik geworden, sie hatte eine Stelle als Registratorin in einer Anwaltskanzlei angenommen. Für sie war das die erste schmale Sprosse auf der schlüpfrigen Leiter, die sie aus einer heruntergekommenen und häßlichen Umgebung in die strahlende Welt des Mittelstandes führen sollte. In eine Welt, in der man nicht in einen Park gehen mußte, in dem Kinderhorden kreischten und Hunde nach einem schnappten, wenn man Wiesen und Bäume sehen wollte, sondern sich in einem eigenen üppigen Garten vergnügen konnte. In der Leute ihre Kleider wuschen, bevor sie schmuddelig aussahen, und sich Männer mit einem Händedruck begrüßten, während die Frauen ihre gepuderten Wangen aneinander streiften.
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