Zwischen den Schränken stand ein kleiner Tisch mit dem Telefon und ein paar Büchern. Palgraves Gedichtanthologie The Golden Treasury, einige Theaterstücke der englischen Renaissance und die Mermaid-Ausgabe von Julius Caesar.
»Sie liebte ihren Shakespeare. Shakespeare und die Bibel. Nahrung für den Geist und Trost für die Seele.« Julius Caesar lag aufgeschlagen obenauf neben dem Vergrößerungsglas. »Sie war auch eine große Theaterfreundin. Wir sind oft ins Theater gegangen, als sie noch Auto fahren konnte. Das waren wundervolle Zeiten. Absolut großartig.« Sie zog ein großes khakifarbenes Taschentuch mit rotem Muster hervor und schneuzte sich.
Sie gingen ins obere Stockwerk. Nur das Schlafzimmer war möbliert. Ein schmales, züchtiges Bett, die Tapete mit Vergißmeinnicht-Muster, ausgebleichte Samtvorhänge. Alles wirkte keusch und unschuldig. Das zweite Zimmer diente als Abstellkammer, in der sich ein Staubsauger, aufgestapelte Schachteln und ein paar Korbflaschen mit selbstgemachtem Wein befanden - einige wirkten trübe, die anderen waren klar, und in manchen blubberte leise der Wein.
»Sie wollte am Wochenende Geißblatt verarbeiten und auf Flaschen ziehen - das ist ein bißchen wie ein Sancerre, müssen Sie wissen.«
Sie stiegen die schmale Treppe hinunter und gingen in die Küche zurück. Barnaby sagte: »Irgendwo muß eine offene Flasche stehen. Sie hat Alkohol getrunken, bevor sie starb.«
»Sie könnten in der Speisekammer nachsehen.« Miss Bellringer deutete auf die blaue Tür und fügte eine Sekunde zu spät hinzu: »Vorsicht, Stufe!«
Er stolperte in das Halbdunkel. Das spärliche Licht war grünlich angehaucht, weil es durch das Laub des Kirschlorbeers gefiltert wurde, der vor dem mit einer Art Fliegengitter verkleideten Fenster wuchs. Der einfache Riegel an diesem Fenster war zerbrochen. Barnaby nahm sein Taschentuch, griff nach dem Riegel, zog das Fenster ohne Mühe auf und schloß es wieder. Es war gerade so breit, daß sich eine schlanke Person ohne weiteres hätte hindurchzwängen können.
Auf den gemauerten Steinregalen standen eine Menge Flaschen und Einweckgläser. Chutney und Aprikpsen in großen Gläsern und weißer, undurchsichtiger Honig mit von Blumen umrandeten Etiketten, auf denen Daten des letzten Jahres standen. Eine große Schüssel mit Pflaumenschlehen. Marmelade und dunkles, klares Gelee. Miss Simpson hatte auch Stangenbohnen eingelegt, genau wie es Barnabys Mutter früher getan hatte. In der Nähe der Tür fand er eine halbleere Weinflasche - Holunderblüte 1979.
Barnaby machte die Hintertür auf und winkte Troy. »Ich brauche Sie; Sie sollen eine Aussage aufnehmen.« Sie gingen zu zweit ins Wohnzimmer und setzten sich zu Miss Bellringer, die sie ein wenig ängstlich und sehr ernst musterte.
»Also«, begann Barnaby, »ich möchte, daß Sie ...«
»Einen Moment, Chief Inspector. Sie haben mich nicht darauf hingewiesen, daß alles, was ich sage, gegen mich und als Beweis verwendet werden kann...«
»Hier handelt es sich nur um eine Zeugenaussage, Miss Bellringer. In einem solchen Fall sind derartige Hinweise nicht nötig, das versichere ich Ihnen.«
Das ist das Problem mit diesen Leuten, dachte Sergeant Troy. Sie sehen sich sogenannte Polizeiserien im Fernsehen an und glauben, daß sie alles wissen. Da er nicht in Barnabys Blickfeld saß, gestattete er sich, den Mund verächtlich zu verziehen.
»Könnten Sie uns erzählen, was geschehen ist, als Sie an dem bewußten Tag hierher kamen.«
»Ich ging durch die Hintertür in die Küche ...«
»War der Postbote bei Ihnen?«
»Nein. Nachdem er mir Bescheid gesagt hatte, machte er seine übliche Runde durchs Dorf und trug die Post aus. Ich öffnete die Hintertür und lief ins Haus. Ich fand sie an der Stelle, die ich Ihnen gezeigt habe.«
»Haben Sie die Leiche berührt?«
»Ja. Ich habe sie nicht bewegt oder so, aber ich... ich hielt ihre Hand für einen Moment.«
»Und haben Sie sonst etwas angefaßt?«
»Da noch nicht. Doktor Lessiter kam und untersuchte sie ... selbstverständlich hat er sie dabei herumgedreht. Dann telefonierte er mit dem Bestattungsunternehmen und forderte ein Auto an ... ich meine, einen Leichenwagen, der sie abholen sollte. Er klärte die Sache mit dem Totenschein und fragte, wer sich um die Formalitäten für die Beisetzung kümmern würde. Ich sagte ihm, daß ich das übernehme, und während wir auf den Leichenwagen warteten, habe ich...« Sie wurde rot und sah Barnaby zerknirscht an. »Ich fürchte, ich habe ein wenig aufgeräumt.«
»Was genau haben Sie aufgeräumt?«
»Auf dem Telefontischchen stand eine Tasse mit einem Kakaorest. Und ein leeres Weinglas. Das kam mir komisch vor.«
»Wieso?«
»Emily hat nie getrunken, wenn sie allein war. Das war eine ihrer Marotten. Ich glaube, sie hielt so etwas für zügellos. Aber jeder, der zu ihr kam, konnte sie ganz leicht überreden, eine Flasche aufzumachen. Sie machte wunderbaren Wein - das war das einzige, worauf sie richtiggehend stolz war ...« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und schwieg lange. Schließlich sagte sie: »Tut mir leid ...«
»Ist schon gut, lassen Sie sich ruhig Zeit. Erzählen Sie einfach weiter, wenn Sie bereit dazu sind.« Natürlich hatte es, falls sie hier tatsächlich über einen Mord sprachen, nur ein einziges Glas gegeben. Das andere wäre sorgfältig abgewaschen und wieder in den Schrank gestellt worden.
»In der Küche stand ein Topf, in dem sie Milch gekocht hatte«, fuhr Miss Bellringer fort. »Ich habe alles abgespült und aufgeräumt. Ich wußte, wie sie darüber gedacht hätte. Schmutzige Töpfe, und Besucher im Wohnzimmer! Sie war sehr pingelig. Ich nehme an, ich habe genau das Falsche getan.« Die Schuldgefühle weckten Aggressionen. Als Barnaby keine Antwort gab, redete sie weiter: »Dann habe ich ihren Kühlschrank ausgeräumt. Ein bißchen Lammfleisch und Milch und andere Kleinigkeiten. Eine halbe Dose Hundefutter. Ich habe es Benjy gegeben. An diesem Morgen hat er kein Frühstück gehabt.«
»Wo ist der Hund jetzt?«
»Auf Traces Farm. Sie müssen sie gesehen haben am Rand des Dorfes - ein orangefarbenes Haus. Sie haben schon ein halbes Dutzend Hunde dort, also macht einer mehr oder weniger nichts aus. Ich habe seither ein paarmal nach ihm gesehen, aber ich werde nicht mehr hingehen. Es regt ihn zu sehr auf. Er trottet immer voller Freude auf mich zu, weil er hofft, daß Emily bei mir ist. Sie hatte den Hund dreizehn Jahre.«
»Haben Sie ihn am Abend ihres Todes bellen hören?« fragte Barnaby.
»Nein, aber er war ohnehin sehr ruhig ... für einen Jack Russell. Natürlich schlug er nur dann nicht an, wenn er die Leute kannte. Bei Fremden war das ganz anders.« Sie bedachte Barnaby mit einem Lächeln und registrierte nicht einmal, welche Bedeutung diese Sätze hatten. »Außerdem schlief er in der Küche. Wenn also die Tür zum Wohnzimmer zu war, hat er vielleicht gedacht, daß Emily in ihrem Bett liegt.«
»Kommen wir noch einmal auf den Freitag morgen zu sprechen...«
»Da war nichts weiter. Sobald der Leichenwagen weg war, schaltete ich den Strom aus, nahm die Hundeleine, die an der Küchentür hing, schloß die Tür ab und machte mich auf den Weg.«
»Ich verstehe. Ich fürchte, ich muß Sie bitten, mir den Schlüssel für dieses Haus zu überlassen. Selbstverständlich gebe ich Ihnen eine Quittung dafür.«
»Oh.« Er sah, daß sie eine Frage beschäftigte, aber sie stellte sie nicht. »Gut.«
»Sie sind von hier aus direkt zu dieser Farm gegangen?« wollte Barnaby wissen. »Nicht in den Garten oder in den Schuppen?«
»Na ja ... ich mußte noch den Bienen die traurige Nachricht überbringen.«
»Wie bitte?«
»Man muß den Bienen möglichst rasch mitteilen, daß jemand gestorben ist, besonders wenn es ihr Besitzer war. Sonst schwärmen sie aus und kommen nicht wieder.«
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