»Nicht unbedingt«, widersprach Mycroft. »Schließlich wissen sie nicht, wie lange Sie schon hier in England sind. Und vermutlich sind sie sich noch nicht einmal darüber im Klaren, dass Sie Amerikaner sind. Ich glaube vielmehr, dass unser junger Matty im Moment eher weniger zu befürchten hat. Aber zurück zur Nachricht. Lassen sich daraus irgendwelche Hinweise entnehmen?«
»Vergesst doch die blöde Nachricht! Wir müssen hinter ihnen her!«, schrie Sherlock.
»Der Junge hat recht«, brummte Crowe. »Es gibt Zeiten für Analysen und Zeiten für Taten. Dies ist eindeutig eine für Taten.« Er schob Virginia sanft von sich. »Du bleibst hier. Ich werde sie verfolgen.«
»Und ich komme mit«, verkündete Sherlock entschlossen. Als Crowe den Mund aufmachte, um zu protestieren, fügte er hinzu: »Matty ist mein Freund, und ich habe ihm die ganze Sache eingebrockt. Und außerdem können wir zu zweit ein viel größeres Gebiet absuchen.«
Crowe blickte zu Mycroft hinüber, der durch ein unmerkliches Nicken zu verstehen gegeben haben musste, dass er einverstanden war. Denn gleich darauf fuhr der Amerikaner fort: »Okay, junger Mann. Dann mal auf die Pferde. Wir reiten gleich los.«
Crowe steuerte auf die Hintertür zu, und Sherlock folgte.
Als sie nach draußen kamen, sah Sherlock zwei Pferde im Hof. Mit ihrem Halfter an einem Holzpfosten festgebunden, warteten sie geduldig vor einem kleinen Stall. Eines davon war fertig gesattelt. Sherlock erkannte das Tier. Es war Crowes Pferd. Das andere, eine schöne braune Fuchsstute, hatte er jedoch noch nie gesehen.
Crowe wies nickend auf die Stute, als er Sherlocks fragenden Blick bemerkte. »Die Fuchsstute gehört eigentlich unserem Vermieter. Virginia und ich haben sie in Pflege genommen und versprochen, sie von Zeit zu Zeit zu bewegen. Du kannst sie nehmen. Im Stall findest du einen Sattel.«
Ohne ein weiteres Wort machte Crowe sich daran, sein Pferd loszubinden, und Sherlock holte rasch den Sattel. Als er schließlich auf seinem Pferd saß, war der ungeduldige Crowe schon um die Ecke des Hauses galoppiert.
Sherlock drückte dem Pferd die Fersen in die Flanken und folgte seinem Lehrer in raschem Galopp.
Hinter einem zarten Wolkenschleier neigte sich die glühend rote Sonne bereits dem Horizont entgegen. Vor ihm preschte Crowe auf seinem Pferd dahin, und Sherlock gab sich große Mühe, ihn einzuholen. Das Trommeln der auf die Straße donnernden Hufe fuhr ihm bis in den Rücken hinauf und erzeugte eine Vibration im Körper, die es ihm schwermachte, richtig Luft zu holen.
Er fragte sich, woher Crowe wohl wusste, in welche Richtung sie mussten. Vermutlich hatte er rasch ein paar Überlegungen darüber angestellt, auf welcher Straße die Männer Farnham am wahrscheinlichsten verlassen würden, wenn sie auf dem Weg zur Küste waren. Wollten sie sich nach Amerika einschiffen, würden sie das am ehesten in Southampton machen. Andererseits konnte Crowe sich durchaus geirrt haben. Denn vielleicht hatten die Männer ja auch vor, mit dem Zug nach Liverpool zu fahren und dort unerkannt im Hafen an Bord zu gehen. Was bedeutete, dass sie Farnham in einer völlig anderen Richtung verlassen würden. Zum ersten Mal wurde Sherlock so richtig klar, dass man mit Logik manchmal nur bedingt weiterkam und dass sie selten eine einzige Antwort lieferte. Meistens ergaben sich mehrere Möglichkeiten, und man musste mit einer anderen Methode versuchen, die richtige zu finden. Man konnte das Intuition nennen oder Spekulation, auf jeden Fall aber war es keine Logik.
Rechts und links flogen Cottages und Häuser so rasch vorbei, dass sie für Sherlock kaum voneinander zu unterscheiden waren. Doch in der Ferne konnte er einen großen Steinbau ausmachen, der auf einem Hügel thronte und bei dem es sich wohl um die Burg von Farnham handelte.
Trotz der Hitze, die die Erde während des Tages aufgenommen hatte und die nun wieder vom Boden abstrahlte, ließ ihm der an den Ohren vorbeirauschende Wind frösteln. Plötzlich meinte er, die Hufschläge seines eigenen Pferdes noch einmal als Echo zu hören, obwohl es in der Umgebung eigentlich nichts gab, an dem ein Echo hätte zurückgeworfen werden können. Er blickte über die Schulter und war ganz verblüfft, Virginia zu sehen, die, dicht an den Hals ihres Pferdes geschmiegt, hinter ihm hergaloppierte. Sie warf ihm ein breites Grinsen zu, und er grinste zurück. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass nichts und niemand Virginia von so einem Abenteuer abhalten konnte. Sie hatte wirklich absolut gar nichts mit den Mädchen gemeinsam, die Sherlock bisher kennengelernt hatte.
Sie galoppierten durch ein kleines Dörfchen.
Vor ihnen auf der Straße sprangen einige Dorfbewohner erschrocken auseinander, und Sherlock konnte hinter sich wütende Rufe hören, als sie weiterritten. Dann hatten sie die Siedlung hinter sich gelassen.
Wie lange würde Crowe wohl noch einfach so weiterreiten, bevor er sich eingestand, dass sie womöglich den falschen Weg eingeschlagen hatten?
Virginia war nun auf gleicher Höhe mit Sherlock. Mit leuchtenden Augen warf sie ihm einen Blick von der Seite zu. Sherlock vermutete, dass sie – ungeachtet der Dringlichkeit ihrer Mission – die Aktion in vollen Zügen genoss. Schließlich ritt sie für ihr Leben gern, und dies war die Chance, zu reiten, wie sie es wohl noch niemals zuvor getan hatte.
Sherlock blickte wieder geradeaus und stutzte. Da weiter vorne, hinter Amyus Crowes gedrungenem Körper und seinem großen weißen Hut, der trotz des rasenden Ritts wundersamerweise irgendwie auf seinem Kopf blieb, nahm er einen Gegenstand wahr, der sich anscheinend bewegte. Sherlock sah genauer hin und erkannte, dass es sich um eine Kutsche handelte. Heftig schaukelte sie hin und her, während sie auf der Straße entlangjagte. Im nächsten Augenblick fuhr sie schon so schnell in die Kurve, dass es sekundenlang so aussah, als würde sie umkippen. Über der Kutsche glaubte Sherlock die dünne Linie einer Peitsche zu erkennen, die vor- und zurückzuckte, als der Kutscher die Pferde zu immer größeren Anstrengungen trieb. War Matty etwa in der Kutsche? Der Kutscher unternahm offensichtlich alles, was in seiner Macht stand, um das Gefährt noch schneller über die Straße dahinfliegen zu lassen. Es musste schon ein großer Zufall sein, falls es nicht die Amerikaner waren, die sich dort vor ihnen befanden. Denn wer sonst sollte so verzweifelt versuchen, aus Farnham fortzukommen, dass er dabei in Kauf nahm, sich den Hals zu brechen?
Sherlock trieb sein Pferd zu noch größerem Tempo an, und das Tier gehorchte. Der Abstand zwischen ihm und Crowe verringerte sich, und er bekam einen besseren Blick auf die Kutsche.
Es handelte sich um ein vierrädriges Gefährt, das von zwei Pferden gezogen wurde. Heftig tanzten die Dämpfungsfedern auf und ab, während die Räder über die unzähligen Furchen, Löcher und Bodenwellen ratterten, die die Straße bedeckten.
Virginia zog langsam an Sherlocks linker Schulter vorbei. Wieder warf er einen Blick zu ihr hinüber. Sie hatte ihre Zähne entblößt, was fast wie ein Grinsen aussah, Sherlocks Vermutung nach aber tatsächlich wohl eher so etwas wie ein wütendes Zähnefletschen war.
Sherlock wandte den Blick nach rechts zu Crowe hinüber, den er nun eingeholt hatte. Seine Augen waren auf die Kutsche vor ihm fixiert und versprühten solch eine vulkanische Glut und Entschlossenheit, dass Sherlock es einen Augenblick lang mit der Angst zu tun bekam. Er hatte Crowe bisher immer als absoluten Gentleman erlebt, für den die Logik und das Sammeln von Fakten über allem standen. Aber Virginia hatte Sherlock einmal erzählt, dass Crowe in Amerika einst eine Art Menschenjäger gewesen war. Ein Jäger, der seine Beute oft auch tot zurückbrachte. Jetzt, da er Crowe so vor sich sah, konnte Sherlock sich das zum ersten Mal wirklich vorstellen. Keine Macht der Erde würde einen Mann mit solch einem Ausdruck in den Augen aufhalten.
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