»Da liegen sie. Achthundertvierunddreißig Bände, von denen nur noch knapp die Hälfte wirklich wertvoll ist.« Er nippte an seinem Glas, bevor er mit dem Zeigefinger über seinen feuchten Schnurrbart fuhr und seine Augen im Zimmer umherwandern ließ.
»Jammerschade, daß Sie sie nicht in besseren Zeiten erlebt haben, als sie sauber aneinandergereiht in ihren Zedernholzregalen standen ... Ich hatte fünftausend Exemplare beisammen. Das hier sind die Überlebenden.«
Corso, der seine Segeltuchtasche auf den Boden gelegt hatte, trat auf die Bücher zu. Er spürte, wie seine Fingerspitzen aus purem Reflex zu kribbeln begannen. Der Anblick war herrlich. Er rückte seine Brille zurecht und sichtete auf den ersten Blick einen Vasari im Quartformat, Erstausgabe von 1588, und einen pergamentgebundenen Tractatus von Berengario de Carpi, aus dem 16. Jahrhundert.
»Ich hätte mir nie vorgestellt, daß die in sämtlichen Bibliographien zitierte Fargas-Sammlung so aussieht: Bücherstapel auf dem Boden, ohne Schränke, einfach an die Wand gerückt, in einem leeren Haus .«
»So ist das Leben, mein Freund. Aber ich muß Ihnen zu meiner Entlastung sagen, daß sich alle in ausgezeichnetem Zustand befinden . Ich selbst säubere und überwache sie - ich lüfte regelmäßig das Zimmer und schütze sie gegen Ungeziefer und Mäuse, gegen Licht, Hitze und Feuchtigkeit. Und das beschäftigt mich den ganzen Tag.«
»Was ist aus dem Rest geworden?«
Der Bibliophile sah mit gerunzelter Stirn zum Fenster hinaus und schien sich dieselbe Frage zu stellen.
»Tja ...«, erwiderte er und wirkte sehr unglücklich, als seine Augen wieder denen Corsos begegneten. »Außer der Quinta, ein paar Möbelstücken und der Bibliothek meines Vaters habe ich nur Schulden geerbt. Wann immer ich irgendwie zu Geld kam, habe ich es in Bücher investiert, und als meine Rente erschöpft war, habe ich verkauft, was es noch zu verkaufen gab: Bilder, Möbel, Geschirr. Ich glaube, Sie wissen, was es heißt, ein leidenschaftlicher Büchersammler zu sein - aber ich bin kein Bibliophiler, ich bin ein Bibliomane. Allein der Gedanke, meine Bibliothek auflösen zu müssen, bereitete mir unsägliche Qualen.«
»Ich habe schon andere Leute wie Sie kennengelernt.«
»Wirklich?« Fargas sah ihn neugierig an. »Ich bezweifle trotzdem, daß Sie sich eine genaue Vorstellung von meinem Zustand machen können. Ich stand mitten in der Nacht auf und irrte zwischen meinen Büchern umher wie eine arme Seele im Fegefeuer. Ich habe mit ihnen gesprochen, unter Treueschwüren ihre Rücken gestreichelt ... Alles umsonst. Eines Tages mußte ich einen Entschluß fassen, und der bestand darin, den Großteil von ihnen zu opfern, um wenigstens die liebsten und wertvollsten Exemplare zu retten. Weder Sie noch sonst irgend jemand wird je begreifen, was das für mich bedeutet hat: meine Bücher den Geiern zum Fraß vorgeworfen.«
»Ich kann es mir vorstellen«, sagte Corso, dem es nicht das Geringste ausgemacht hätte, an einem solchen Leichenbegängnis teilzunehmen.
»Sie können es sich vorstellen? Nein. Das könnten Sie nicht einmal, wenn Sie hundert Jahre alt würden. Allein die Auswahl hat mich zwei Monate Arbeit gekostet - einundsechzig Tage der Agonie und einen Fieberanfall, an dem ich beinahe gestorben wäre. Als sie dann endlich abgeholt wurden, glaubte ich, verrückt werden zu müssen . Ich erinnere mich daran, als wäre es gestern passiert, obwohl mittlerweile zwölf Jahre vergangen sind.«
»Und jetzt?«
Der Bibliophile zeigte ihm sein leeres Glas, als symbolisiere es etwas.
»Seit einiger Zeit muß ich wieder auf meine Bücher zurückgreifen. Dabei brauche ich eigentlich nicht viel zum Leben: Einmal pro Woche kommt jemand zum Putzen, und das Essen wird mir vom Dorf heraufgebracht . Nein, mein Geld geht fast ganz für Steuern drauf, die ich dem Staat für die Quinta bezahlen muß.«
Er sprach das Wort »Staat« im selben Ton aus, in dem er »Ratten« oder »Bohrwürmer« gesagt hätte. Corso setzte seine mitfühlende Miene auf und ließ den Blick erneut über die nackten Zimmerwände schweifen.
»Sie könnten das Haus doch verkaufen.«
»In der Tat, das könnte ich.« Fargas nickte apathisch. »Aber es gibt Dinge, die Sie nicht verstehen.«
Corso hatte sich gebückt und einen Folioband in die Hand genommen, den er interessiert durchblätterte. De Symmetria von Dürer, Paris 1557, ein Nachdruck der ersten, lateinischen Ausgabe von Nürnberg. Gut erhalten und mit breiten Seitenrändern. Das hätte Flavio La Ponte in helles Entzücken versetzt. Und wen nicht.
»Wie oft verkaufen Sie Bücher?«
»Zwei- oder dreimal pro Jahr; damit habe ich genug. Nach langem Hin und Her wähle ich einen Band aus und verkaufe ihn. Das ist das Zeremoniell, das ich vorher gemeint habe, als Sie ankamen. Ich habe einen Käufer, ein Landsmann von Ihnen, der mich zweimal im fahr besucht.«
»Kenne ich ihn?« fragte Corso.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte der Bibliophile, ohne einen Namen hinzuzufügen. »Ich erwarte ihn just in diesen Tagen, und als Sie geläutet haben, war ich gerade dabei, ein Opfer zu bestimmen . « Er imitierte mit einer seiner schlanken Hände
die Bewegung eines Fallbeils und lächelte melancholisch. »Wieder einmal muß ein Buch sterben, damit die anderen zusammenbleiben können.«
Corso sah zur Decke hinauf - die Analogie war augenfällig: Abraham, dem ein tiefer Riß quer durchs Gesicht verlief, versuchte unter großer Anstrengung, seine messerbewehrte Rechte freizubekommen, die der Engel mit einer Hand festhielt, während er mit der anderen den Patriarchen streng zurechtwies. Unter der Messerklinge, den Kopf auf einen Stein gebettet, wartete Isaak resigniert darauf, daß sich sein Schicksal erfüllte. Er war blond und rosig wie einer von diesen Epheben, die niemals nein sagen. Ein bißchen weiter links war eine Art Schaf gemalt, das sich im Dorngestrüpp verfangen hatte, und Corso ergriff insgeheim Partei für das Schaf.
»Dann gibt es wohl keine andere Lösung«, sagte er.
»Ich hätte schon eine gefunden . « Fargas lächelte bitter.
»Aber der Löwe verlangt seinen Teil, die Haie wittern das Blut und den Köder. Leider gibt es heute keine Leute mehr wie den Grafen von Artois, der König von Frankreich war. Kennen Sie die Anekdote? Der alte Marquis de Paulmy besaß sechzigtausend Bücher und war am Rande des Ruins. Um den Gläubigern zu entgehen, verkaufte er seine Bibliothek an den Grafen von Artois, aber der machte es zur Bedingung, daß sich der Alte bis zu seinem Tod darum kümmerte. Mit dem verdienten Geld konnte Paulmy neue Bände kaufen und so die Sammlung bereichern, die bereits einem anderen gehörte .«
Fargas vergrub die Hände in den Hosentaschen, humpelte an seinen Büchern entlang und ging sie der Reihe nach durch.
Corso mußte unwillkürlich an den abgemagerten, zerlumpten Montgomery denken, der seine Truppen in El Alamein abschritt.
»Manchmal betrachte ich sie stundenlang und wedle nur ein bißchen den Staub weg, ohne sie anzufassen oder aufzuschlagen.« Er war stehengeblieben und hatte sich niedergebeugt, um eines der Bücher auf dem alten Teppich geradezurücken. »Ich weiß in- und auswendig, was sich unter jedem Deckel verbirgt ... Sehen Sie sich das hier an: De revolutionis celestium, Nikolaus Kopernikus. Zweite Auflage, Basel 1566. Eine Lappalie, nicht? Wie die Vulgata Clementina, die Sie dort zu Ihrer Rechten haben, zwischen den sechs Bänden der Poliglota Ihres Landsmannes Cisneros und dem Chronicarum von Nürnberg, Und beachten Sie dort drüben diesen kuriosen Folianten: Praxis criminis persequendi von Simon de Colines, 1541. Oder diesen Einband mit fünf Bünden und Ziernägeln, der vor Ihnen liegt. Wissen Sie, was der enthält? Die Legenda aurea von Jacobus a Voragine, Basel 1493, gedruckt von Nikolaus Kesler.«
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