»Sie sehen selbst, wie schwer es ist, eine Wahl zu treffen.« Fargas ließ den Bücherjäger keine Sekunde aus den Augen. Er beobachtete ihn unruhig, angespannt, während Corso mit äußerster Behutsamkeit in dem Buch blätterte. »Ich verkaufe jedesmal nur ein einziges Buch, aber nicht irgendeines. Das Opfer muß den anderen weitere sechs Monate Sicherheit gewähren. Das ist mein Tribut an den Minotaurus«, er faßte sich mit der Hand an die Schläfe, »wir alle haben einen hier, im Zentrum des Labyrinths . Unser Geist schafft ihn, und dann müssen wir uns seiner Schreckensherrschaft beugen.«
»Warum verkaufen Sie nicht mehrere weniger wertvolle Bücher auf einmal? Vielleicht könnten Sie damit die nötige Summe zusammenbekommen und die seltensten Stücke oder Ihre Lieblingsbücher verschonen.«
»Ein Exemplar offen verachten und ihm ein anderes vorziehen?« Den Bibliophilen schüttelte es. »Undenkbar. Sie alle besitzen dieselbe unsterbliche Seele und genießen für mich dasselbe Recht. Natürlich habe ich meine Vorlieben, das ist unvermeidlich . Aber das würde ich niemals zum Ausdruck bringen. Mit keiner Geste und keinem Wort würde ich ein Buch über seine vom Schicksal weniger begünstigten Artgenossen hinausheben. Im Gegenteil. Denken Sie daran, daß Gott selbst seinen eigenen Sohn zum Opfer bestimmt hat - um die Menschheit zu erlösen. Und Abraham . « Er schien auf das Deckengemälde anzuspielen, denn er hob den Blick und lächelte traurig ins Leere, ohne seinen Satz zu beenden.
Corso hatte das zweite Buch geöffnet, ein Folio mit italienischem Pergamenteinband aus dem 16. Jahrhundert. Es handelte sich um einen wunderschönen Vergil - die 1544 gedruckte venezianische Ausgabe von Giunta. Das holte den Bibliophilen wieder in die Wirklichkeit zurück.
»Herrlich, nicht?« Er trat einen Schritt vor, um ihm das Buch ungeduldig aus der Hand zu reißen. »Schauen Sie sich die Titelseite mit der geometrischen Bordüre an, die sie einrahmt. Einhundertdreizehn Holzschnitte, alle perfekt, bis auf die Seite 345, die rechts unten, kaum wahrnehmbar, eine kleine Restaurierung von alter Hand aufweist. Das ist zufällig der Holzschnitt, der mir am besten gefällt: Äneas in der Unterwelt, und neben ihm die Sibylle. Ist Ihnen je etwas Vergleichbares zu Gesicht gekommen? Beachten Sie die Flammen hinter der dreifachen Mauer, den Kessel, in dem die Verdammten schmoren . Und hier der Vogel, der die Eingeweide der Gemarterten verschlingt.« Corso glaubte das Blut in Fargas’ Schläfen und Handgelenken pulsieren zu sehen. Er sprach mit hohler Stimme, das Buch dicht vor den Augen, um besser lesen zu können. Sein Gesicht strahlte: »Moenia lata videt, triplici circundata muro, quae rapidus flammis ambit torrentibus amnis ...« Er hielt verzückt inne. »Der Holzschneider hatte eine mittelalterliche Vorstellung von Vergils Hades: großartig und grausam.«
»Ein prächtiges Stück«, bestätigte der Bücherjäger, während er an seiner Zigarette zog.
»Mehr als das. Fassen Sie das Papier an. Esemplare buono e genuino con le figure assai ben impresse, versichern die alten Kataloge . « Nach seinem euphorischen Anfall verloren sich Fargas’ Augen nun wieder im Leeren. Er wirkte abwesend, zurückgezogen in die dunkelsten Winkel seines Alptraums. »Ich glaube, ich werde das hier verkaufen.«
Corso stieß gereizt den Rauch seiner Zigarette aus.
»Ich verstehe Sie nicht. Das ist doch offensichtlich eines Ihrer Lieblingsbücher. Und der Agricola genauso. Ihnen zittern ja die Hände, wenn Sie sie berühren.«
»Die Hände? Sagen Sie lieber, daß sich meine Seele unter Höllenqualen windet. Ich dachte, ich hätte es Ihnen erklärt ... Das zum Opfer auserkorene Buch darf mir nicht gleichgültig sein. Was wäre dieser schmerzliche Akt sonst? Eine plumpe Transaktion, die den Regeln des Marktes gehorcht: mehrere billige gegen ein teures.« Er schüttelte energisch und angewidert den Kopf und blickte mit wilden Augen um sich, als suche er jemanden, dem er hätte ins Gesicht spucken können. »Nein. Es sind gerade die liebsten, die ich an der Hand nehme und bis zum Opferaltar begleite, diejenigen, welche sich durch ihre Schönheit hervortun und durch die Liebe, die sie zu verbreiten wußten . Das Leben kann mich an den Bettelstab bringen, gewiß. Aber einen Schuft wird es nie aus mir machen.«
Er irrte ziellos durchs Zimmer. Das traurige Szenarium, seine Behinderung, der Wollpullover und die alte Hose betonten noch den zerrütteten Eindruck, den er machte.
»Das ist auch der Grund, weshalb ich in diesem Haus bleibe«, fuhr er fort. »In seinen Zimmern geistern die Schatten meiner verlorenen Bücher umher.« Er war vor dem Kamin stehengeblieben und starrte auf den kläglichen Holzstoß. »Manchmal fühle ich, daß sie mich umringen und von meinem Gewissen eine Wiedergutmachung fordern . Dann greife ich zu der Violine, die Sie dort sehen, und spiele stundenlang, um sie zu besänftigen; dabei laufe ich im Dunklen durchs Haus wie ein Verdammter.« Er hatte sich nun wieder Corso zugewandt, der sich im Gegenlicht vor der dreckigen Fensterscheibe abzeichnete. »Der ewige Büchernarr.«
Er schritt langsam auf den Tisch zu und legte auf jedes Buch eine Hand, als habe er den Moment der Entscheidung bis zu diesem Augenblick hinausgezögert. Jetzt lächelte er und sah Corso forschend an.
»Welches würden Sie an meiner Stelle auswählen?«
Corso trat ungemütlich von einem Bein aufs andere.
»Lassen Sie mich da raus. Glücklicherweise bin ich nicht an Ihrer Stelle.«
»Sie sagen es: glücklicherweise. Scharfsinnige Bemerkung. Wenn Sie ein Dummkopf wären, würden Sie mich wahrscheinlich beneiden. Ein solcher Schatz im Hause ... Aber Sie haben mir nicht gesagt, welches ich verkaufen soll. Welcher Sohn geopfert werden soll.« Seine Miene verzog sich plötzlich zu einer gequälten Grimasse, als werde er bis ins Mark hinein, bis ins Innerste seiner Seele von Schmerzen gepeinigt. »Möge sein Blut über mich kommen«, fügte er leise und mit gebrochener Stimme hinzu. »Über mich und meine Nachkommenschaft bis zur siebten Generation.«
Er legte den Agricola an seinen Platz auf dem Teppich zurück und streichelte den Pergamentdeckel des Vergil, während er zähneknirschend »sein Blut« wiederholte. Seine Augen waren feucht, und der Tremor seiner Hände schien unkontrollierbar geworden zu sein.
»Ich glaube, ich verkaufe das hier«, stöhnte er.
Wenn Fargas nicht schon ganz übergeschnappt war, so fehlte wenig. Corsos Blick glitt über die nackten Wände und über die Abdrücke der Bilder auf den schimmeligen Tapeten. Der siebten Generation würde das alles piepegal sein. Aber so weit kam es sowieso nicht - Fargas würde so wenig wie er, Lucas Corso, Nachkommen haben. Sein Geschlecht würde mit ihm aussterben. Oder endlich in Frieden ruhen. Der Qualm seiner Zigarette stieg zu dem abgeblätterten Deckengemälde empor, kerzengerade wie die Rauchsäule eines Opfers im windstillen Morgengrauen.
Er sah zum Fenster hinaus, in den vom Unkraut überwucherten Garten, und hielt Ausschau nach einem Schaf, das sich im Dorngestrüpp verfangen hatte, aber es gab keine Alternative, es gab nur Bücher. Und der Engel ließ die Hand fahren, die das Messer umklammerte, und verkrümelte sich - weinend, der armselige Narr.
Corso nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippte sie in den Kamin. Er war müde und fröstelte trotz seines Mantels. Zu viele Worte hatte er in diesem Zimmer gehört, und er war froh, daß es keinen Spiegel gab, in dem er sein Gesicht hätte sehen können. Er warf mechanisch einen Blick auf die Uhr, aber ohne die Zeit abzulesen. Für das Vermögen auf den alten Teppichen und Gobelins hatte Victor Fargas mehr als genug Mitleid von ihm kassiert, und Corso fand, es sei nun an der Zeit, übers Geschäft zu reden.
»Unddie Neun Pforten!«
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