Totes Laub raschelte unter seinen Sohlen, während er auf das Haus zuschritt. Die Marmorstatuen, die den Weg früher einmal flankiert hatten, lagen fast alle zerbrochen neben ihren Sockeln. Der Garten war völlig verwahrlost, von der Vegetation überwuchert, die alles unter sich begrub. Bänke und Aussichtsterrassen, deren rostige Geländer auf die bemoosten Steinböden abfärbten. Auf der linken Seite sah er neben einem Teich voller Wasserpflanzen einen gekachelten Brunnen mit einem pausbäckigen Puttchen, das den Kopf zum Schlaf auf ein Buch gelegt hatte. Die Augen waren ausgehöhlt, die Hände verstümmelt, und aus dem halb geöffneten Mund tröpfelte Wasser. Die ganze Atmosphäre war von einer unendlichen Traurigkeit durchtränkt, der Corso sich nicht entziehen konnte. >Quinta da Soledadec, wiederholte er bei sich, >Villa der Einsamkeit. Der Name paßte.
Er stieg die Steintreppe zum Eingang hinauf und hob dabei die Augen. Zwischen seinem Kopf und dem grauen Himmel war eine Sonnenuhr mit römischen Ziffern auf die Fassade gemalt, die keine Zeit anzeigte; darunter eine lateinische Inschrift: Omnes vulnerant, postuma necat.
»Alle verletzen«, las Corso, »die letzte tötet.«
»Sie kommen gerade richtig«, sagte Fargas. »Zum Zeremoniell.«
Corso reichte ihm ein wenig verwirrt die Hand. Victor Fargas war groß und hager wie ein Edelmann von El Greco. In seinem weiten Pullover aus grober Wolle bewegte er sich wie eine Schildkröte in ihrem Panzer. Er hatte einen penibel zurechtgestutzten Schnurrbart und trug eine Hose mit ausgebeulten Knien, sowie altmodische, abgenützte Schuhe, die jedoch sauber glänzten. Das war es, was Corso auf den ersten Blick wahrnehmen konnte, bevor seine Augen in das riesige, leere Haus wanderten, über die nackten Wände, die Deckenmalereien, die sich in Schimmellagunen auflösten und von feuchtem Gips verschluckt wurden.
Fargas musterte seinen Besucher kritisch.
»Ich nehme an, daß Sie ein Glas Cognac nicht ablehnen wer-den«, sagte er schließlich, als wäre er nach eingehender Überlegung zu diesem Schluß gelangt. Dann entfernte er sich mit hinkendem Gang, ohne sich darum zu kümmern, ob Corso ihm durch den Korridor folgte oder nicht. Die Zimmer, an denen sie vorbeikamen, waren entweder leer oder mit Resten von unbrauchbaren Möbeln ausgestattet, die man in den Ecken zusammengerückt hatte. Von den Decken hingen nackte Fassungen, zum Teil mit staubigen Glühbirnen.
Die einzigen Räume, die einen halbwegs bewohnten Eindruck machten, waren zwei Salons, die eine Schiebetür miteinander verband. Die Tür, in deren Glasscheiben ein Wappen eingeschliffen war, stand offen und zeigte kahle Wände. Die Gegenstände, mit denen sie einst bedeckt gewesen waren, hatten ihre Spuren auf der alten Tapete hinterlassen: rechteckige Umrisse von verschwundenen Gemälden, Abdrücke von Möbeln, verrostete Nägel, Stromanschlüsse für nicht mehr vorhandene Lampen. Die ganze traurige Landschaft wurde von einem gemalten Himmelsgewölbe überspannt, in dessen Zentrum die Opferung Isaaks dargestellt war: Ein abgeblätterter Engel mit riesigen Flügeln hielt die Hand des Patriarchen Abraham fest, der dabei war, mit dem Messer auf einen blonden Jüngling loszugehen. Unter dem falschen Gewölbe öffnete sich auf die Terrasse und den hinteren Teil des Gartens hinaus eine schmutzige Fenstertür, deren Scheiben teilweise durch Kartonstücke ersetzt worden waren.
»Home, sweet home«, sagte Fargas.
Der ironische Ton, den er dabei anschlug, klang nicht sehr überzeugend. Wahrscheinlich hatte der Hausherr diesen Spruch schon so oft benützt, daß er selbst nicht mehr an seine Wirkung glaubte. Er sprach spanisch mit einem vornehmen, portugiesisch gefärbten Akzent. Seine Bewegungen waren sehr langsam, wie die eines Menschen, der eine Ewigkeit vor sich hat, aber das lag vielleicht an seinem invaliden Bein.
»Cognac«, wiederholte er, als wolle er sich ins Gedächtnis rufen, was ihn hierher geführt hatte.
Corso nickte leicht mit dem Kopf, ohne daß Fargas ihn sah. Der geräumige Salon wurde auf der anderen Seite von einem riesigen Kamin abgeschlossen, in dem ein kleiner Stoß Holzscheite angeordnet war. Das Mobiliar bestand aus zwei ungleichen Sesseln, einem Tisch und einer Kredenz. Des weiteren gab es eine Petroleumlampe, zwei Kerzenleuchter, eine Violine im geöffneten Kasten und wenig mehr. Auf dem Boden jedoch lagen, auf ausgefransten Teppichen und verblichenen Gobelins, so weit wie möglich von den Fenstern und dem bleifarbenen Tageslicht entfernt, säuberlich angeordnet, Hunderte von Büchern. Fünfhundert oder mehr, schätzte Corso. Vielleicht auch tausend. Darunter zahlreiche alte Handschriften und Inkunabeln. Wertvolle leder- oder pergamentgebundene Stük-ke, alte Exemplare mit Ziernägeln auf den Deckeln, Foliobände, Elzeviers, Einbände mit Fileten, Rosetten und Schließen, Bücher, deren Rücken und Kanten mit goldenen Lettern verziert oder in den Schreibstuben mittelalterlicher Klöster kalligraphisch ausgestaltet worden waren. Des weiteren fiel Corso auf, daß wohl ein Dutzend Mausefallen über die Zimmerecken verteilt waren, die meisten ohne Käse.
Fargas, der an der Kredenz herumhantiert hatte, kam mit einem Glas und einer Flasche Remy Martin zurück, die er gegen das Licht hielt, um ihren Inhalt zu überprüfen.
»Goldener Nektar der Götter«, sagte er in feierlichem Ton. »Oder des Teufels.« Er lächelte nur mit dem Mund, indem er wie die alten Filmgalane den Schnurrbart verzog, aber sein Blick blieb starr und ausdruckslos. Unter seinen Augen hingen schwere Tränensäcke wie nach unzähligen schlaflos verbrachten Nächten. Corso betrachtete seine feingliedrigen, aristokratischen Hände, während er aus ihnen das Cognac-Glas entgegennahm, dessen dünnes Kristall leicht vibrierte, als er es an die Lippen führte.
»Hübsches Glas«, meinte er, um irgend etwas zu sagen.
Der Büchersammler nickte mit einer resignierten und zugleich selbstironischen Miene, die alles in ein neues Licht rückte: das Glas, die nahezu leere Flasche, das geplünderte Haus, ja seine eigene Präsenz inmitten dieser Umgebung, ein vornehmes, blasses, abgetakeltes Gespenst.
»Mir sind nur noch zwei von der Sorte geblieben«, gestand er nüchtern und gelassen. »Deshalb bewahre ich sie auf.«
Corso lächelte verständnisvoll. Sein Blick schweifte kurz über die leeren Wände, um dann wieder zu den Büchern auf dem Boden zurückzukehren.
»Diese Quinta muß einmal prächtig gewesen sein«, sagte er.
Fargas zuckte mit der Schulter.
»Ja, das war sie. Aber mit den alten Familien ist es wie mit den Hochkulturen - irgendwann sterben sie aus und gehen unter.« Er blickte sich gedankenverloren um, und in seinen Augen schienen sich die Gegenstände zu spiegeln, die den Raum einst geschmückt hatten. »Zuerst ruft man die Barbaren, damit sie den Limes bewachen, dann bereichert man sie, und zum Schluß macht man sie zu seinen Gläubigern . Bis sie sich eines Tages erheben, über einen herfallen und einen ausrauben.« Er sah sein Gegenüber in einem Anfall von Mißtrauen an. »Ich hoffe, Sie verstehen, wovon ich spreche.«
Corso nickte und setzte das mitfühlendste Kaninchenlächeln seines gesamten Repertoires auf.
»Ich verstehe Sie bestens«, bestätigte er. »Landsknechtsstiefel, die auf Meißener Porzellan herumtrampeln. Meinen Sie das? Putzfrauen in Abendkleidern. Neureiche Tagelöhner, die sich den Hintern mit alten Handschriften abwischen.«
Fargas machte eine zustimmende Handbewegung und lächelte zufrieden. Dann hinkte er zu der Kredenz, um das zweite Glas zu holen.
»Ich glaube, ich trinke auch einen Cognac«, sagte er.
Sie stießen schweigend miteinander an und sahen sich dabei in die Augen wie die Brüder eines Geheimbundes, die soeben das Erkennungsritual vollzogen haben. Dann deutete der Bibliophile mit der Hand, in der er das Glas hielt, einladend auf die Bücher, als erlaube er Corso nun, wo er die Initiationsprobe bestanden hatte, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten und sich ihnen zu nähern.
Читать дальше