Während sie plauderten, stießen auch Alan, David und Annie zu der Gruppe. Während Bella an der Hand ihres Bruders eifrig rückwärtslaufen übte, tauschten die Erwachsenen Neuigkeiten aus und lachten über Anekdoten aus der Schulzeit. John spürte, dass er nicht mit ganzem Herzen dabei war. Die kleine Auseinandersetzung mit seiner Mutter nagte an ihm.
Schließlich entschuldigte er sich und fuhr zur gegenüberliegenden Seite hinüber. Mittlerweile waren die Bänke dicht bevölkert mit Zuschauern und Läufern, die sich ausruhten oder bei einer Tasse Tee aufwärmten. So oft er auch die lange Reihe der Bänke absuchte, er konnte seine Mutter und Renie nicht entdecken. Zunehmend unruhig hielt er Ausschau nach jemandem, den er kannte, als ein älterer Herr ihn ansprach. „Hallo, John. Ich habe Sie und Ihre Geschwister schon aus der Ferne gesehen. Schön, dass Sie wieder alle zum Weihnachtsbesuch hier sind.“
John erkannte den Nachbarn seiner Eltern. „Mr. Barnes, guten Abend und frohe Weihnachten. Sagen Sie, haben Sie vielleicht auch meine Mutter gesehen?“
„Natürlich. Emmeline hat mir ihre Enkelin vorgestellt. Ist ja eine richtige junge Dame geworden – “
„Und haben Sie zufällig auch mitbekommen, wo sie hingegangen sind? Ich kann sie nicht mehr finden.“, fiel John ihm drängend ins Wort.
„Meine Frau hat gesehen, wie die beiden in Richtung Toiletten verschwunden sind. Wir haben uns noch darüber unterhalten, was dem jungen Ding – Maureen heißt sie, sagte Emmeline? – wohl zugestoßen ist, dass sie im Rollstuhl sitzen muss – “
„Wie lange sind die beiden schon weg?“
Mr. Barnes sah auf die Uhr. „Schon über eine Viertelstunde, schätze ich.“ John atmete tief durch.
Ruhig bleiben. Wahrscheinlich stehen sie einfach in einer langen Schlange an der Toilette an.
„Wo befinden sich die Toiletten?“
Mr. Barnes deutete nach hinten. „Wenn Eislauf ist, wird der Anbau des Palmenhauses aufgesperrt, damit die Anlage dort genutzt werden kann.“ John kniff die Augen zusammen und starrte in die angegebene Richtung, konnte jedoch niemanden entdecken. „Danke, Mr. Barnes. Ich werde sie mal suchen gehen. Grüßen Sie Ihre Frau von mir.“
Kurz schwankte er, ob er den anderen Bescheid geben sollte. Seine Geschwister standen jedoch immer noch am anderen Ende der Bahn, ins Gespräch vertieft. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass die Zeit drängte. Also zog er eilends die Schlittschuhe aus und schlüpfte in seine Stiefel. Im Laufschritt erreichte er den rückwärtigen Eingang des viktorianischen Gewächshauses. In einem Vorbau waren einige Funktionsräume untergebracht. Eine zweiflüglige Glastür führte ins Innere des Gewächshauses. An diesem Weihnachtsabend waren alle Glashäuser der Königlichen Gärten geschlossen. Die Damentoilette war jedoch wie erwartet zugänglich. Vorsichtig öffnete John die Tür einen Spalt und rief, „Mum? Renie?“ Alles blieb totenstill. Johns Herz sank. Er wusste, dass hier keine Menschenseele war, dennoch ging er hinein und kontrollierte jede Tür. Als er wieder ins Dunkel des frühen Abends hinaustrat, spürte er Panik in sich aufsteigen. Die beiden wären nie gegangen, ohne den anderen Bescheid zu geben.
Dann kam ihm eine Idee. Konnte es sein, dass Emmeline die Gelegenheit nutzen wollte, ihrer Enkelin etwas in dem Gewächshaus zu zeigen? Sie besaß Schlüssel für alle Häuser. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück in das Gebäude. Tatsächlich ließ sich die Glastür öffnen. Er schlüpfte hindurch.
Die feuchtwarme Luft schlug ihm ins Gesicht wie ein nasser Lappen. Er lauschte, konnte aber nichts hören. Auf sein Rufen erhielt er keine Antwort. Warum sollten die beiden hier im Dunklen herumschleichen? Lediglich die mit einem Gummigitter belegten Gehwege durch das riesige Gewächshaus waren von schwachen Bodenleuchten notdürftig erhellt.
Als John sich vom Eingang entfernte, umhüllte ihn die Dunkelheit. Geisterhaft zeichneten sich die Silhouetten der tropischen Pflanzen ab, die das Palmenhaus nach Kontinenten geordnet beherbergte. Außer Palmen gab es eine Vielzahl anderer Gewächse, wie Mangobäume, Zuckerrohr und Kaffeebüsche, dazu eine Sammlung exotischer Medizin-, Gift- und Gewürzpflanzen. Mit einem Mal war es John, als hätte er etwas gehört. Noch einmal rief er. Nun war er sicher, dass irgendwer oder irgendetwas mit einem undefinierbaren Laut reagiert hatte. Er schlich weiter in die Richtung, in der er die Quelle vermutete. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Als eine Maus über den Weg huschte, hätte er beinahe vor Schreck aufgeschrien. Während er sich vortastete, konnte er das Geräusch in unregelmäßigen Abständen hören. Plötzlich wurde ihm klar, woher die Laute kamen. Im hinteren Teil des Hauses führte ein Abgang hinunter zu einer kleinen Abteilung, die der Flora und Fauna des Meeres gewidmet war. In mehreren Aquarien gab es Korallen, Piranhas und andere Meeresbewohner zu sehen.
„Mmmmm“ Das unheimliche Stöhnen jagte ihm Schauer über den Rücken, während er die Rampe hinuntertappte. Im Dämmerlicht, das von den Aquarien ausging, konnte er zwei Gestalten erkennen, die auf dem Boden kauerten, an einen metallenen Handlauf gelehnt. „Oh, mein Gott!“, entfuhr es ihm, als er erfasste, dass seine Mutter und Renie geknebelt und mit Handschellen an der Metallstange festgekettet waren. Mit zitternden Fingern machte er sich daran, das Tuch um Renies Mund aufzuknoten.
Als sie wieder frei atmen und sprechen konnte, würgte sie heraus. „Es ist Nigel Owen! Er hat uns aufgelauert. Er hat eine Pistole. Sicher kommt er gleich wieder zurück. Er ist dich suchen gegangen, um dich auch hierher zu locken. Er hat ständig versucht, dich von meinem Handy aus anzurufen, konnte dich aber nicht erreichen.“ Sie hustete.
John wollte sich daran machen, auch seine Mutter von dem Knebel zu befreien, hielt aber inne, als Renie flehte. „Nein, John, wenn du das machst, merkt er, dass du hier bist. Du musst dich verstecken, bevor er wieder kommt. Versuch, jemanden zu alarmieren. Und leg mir den Knebel wieder an.“
John musste einsehen, dass Renie recht hatte. Die Handschellen würde er ohne Werkzeug oder Schlüssel nicht aufbekommen. Schweren Herzens tat er, wie ihm geheißen. Keine Sekunde zu früh, denn die drei hörten, wie die hintere Tür des Gewächshauses aufging. John zog sich in höchster Eile zurück und lauschte.
„Verdammt, der Kerl ist wie vom Erdboden verschluckt. Wir machen jetzt einen letzten Versuch, ihn zu erreichen. Ich mache Ihnen den Knebel ab, damit Sie mit ihm reden können, Lady. Aber wenn Sie hier rumschreien, dann knalle ich Sie gleich ab.“
John dachte an sein Handy, das abgeschaltet in seiner Reisetasche lag. Glasklar dämmerte ihm, dass Owen alles daran setzen würde, um seinen Rachefeldzug zu Ende zu führen. Er selbst und Renie hatten Owens Pläne, George lebenslänglich ins Gefängnis zu schicken, ruiniert. Anstatt sich schnellstmöglich abzusetzen, war Owen hiergeblieben und hatte John und seine Familie beschattet. Er hatte schon einmal versucht, Renie zu töten. Nun, da er sie in seiner Gewalt hatte, würde er sie nicht mehr entkommen lassen. John hatte keine Zeit zu verlieren. Er musste selbst handeln. Bis Verstärkung eintraf, wäre Owens Geduld am Ende.
Ich brauche eine Waffe, überlegte er fieberhaft und ließ den Blick durch die dichte Vegetation um ihn herum schweifen. Er hörte, wie seine Mutter begann, auf Owen einzureden. „Worum geht es Ihnen überhaupt, junger Mann? Was auch immer Sie wollen, meine Familie hat nichts damit zu tun. Wir kennen Sie doch gar nicht.“
„Schnauze! Ihre Nichte kennt mich sehr wohl, nicht wahr? Und Ihr Sohn erst, dieser selbsternannte Samariter – der hatte keine Ahnung, dass ich es war, der die Sache mit George Campbell so geschickt eingefädelt hatte.“, höhnte Owen.
„Geschickt eingefädelt!“ Emmeline Mackenzies Stimme war voller Entsetzen. „So nennen Sie das, wenn Sie aus irgendwelchen Rachegefühlen diesem Mann gegenüber einfach ein junges Mädchen töten, nur um ihn als den Schuldigen dastehen zu lassen!“
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