„Ist alles fertig, Maggie? Dann lasst uns essen, Kinder.“
Beim Abendessen saß John zwischen seinem Vater und David.
„Wie läuft die Kanzlei, Kleiner?“, fragte er seinen jüngeren Bruder, während Maggie die Suppe austeilte. David und Annie waren beide Steuerberater. Sie hatten sich in der Firma, in der beide arbeiteten, kennengelernt, geheiratet und sich vor einigen Jahren in Cambridge gemeinsam selbstständig gemacht.
„Ich kann nicht klagen, John. Unser Mandantenkreis erweitert sich beständig. Das Steuerrecht wird immer komplizierter, egal was die Politik auch versucht, um es zu vereinfachen. Zum Beispiel wird nun zum ersten Januar eine Regelung in Kraft treten…“
John bemühte sich redlich, den Ausführungen seines Bruders zu folgen, doch verlor er schon nach wenigen Minuten den Faden. Glücklicherweise warf Maggies Ehemann, der aufmerksam zugehört hatte, eine Frage ein und es entspann sich eine lebhafte Diskussion. John, dem es ein Rätsel war, wie jemand sich für die Reform der Körperschaftssteuer begeistern konnte, neigte den Kopf zu seinem Vater hinüber und fragte halblaut, „Hat Mum dir den letzten Schnitt der Buchshecken im Vorgarten überlassen?“
James Mackenzie zwinkerte seinem Sohn zu. „Du hast es gemerkt, nicht wahr? Nach dem Neuaustrieb der Blätter im Frühjahr werden wir eine wunderbare Triceratops-Skulptur haben. Und das Beste ist, dass es Emmeline noch nicht einmal aufgefallen ist, dass ihre Figur einer Felis domestica sich allmählich in einen nordamerikanischen Pflanzenfresser aus der Kreidezeit verwandelt.“
„Die meisten Menschen sehen das, was sie erwarten zu sehen.“, kam es da in etwas abfälligem Ton von der gegenüberliegenden Tischseite. Ertappt blickten beide auf. Tante Isabel lächelte heiter. Johns Vater warf einen schnellen Blick zu seiner Frau hinüber, die jedoch damit beschäftigt war, dem widerspenstigen Christopher die Gemüsesuppe schmackhaft zu machen. Beruhigt wandte er sich an Isabel und brummte, „Du hast wirklich ein ausgezeichnetes Gehör.“
„Nicht nur das. Ich sehe auch noch wie ein Adler. Und mein Gedächtnis funktioniert einwandfrei. Allerdings schränkt das Rheuma mich immer mehr ein, so dass ich nicht mehr ganz so fix bin wie ein junges Ding mit siebzig.“
Emmeline, die es aufgegeben hatte, Christopher für die Suppe zu begeistern und sich einige Karottenflecken von ihrem Ärmel tupfte, hatte ihre letzten Worte gehört. „Herzlichen Dank, Isabel. Dann darf ich mich mit meinen achtundsechzig Jahren ja noch als Teenager fühlen.“
„Es gibt Leute, die sind schon alt zur Welt gekommen, meine Liebe.“
Johns Mutter knirschte mit den Zähnen und stand dann auf, um die Teller abzuräumen. Isabel aber bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. „Einen Moment bitte, Emmeline. Ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um zu erklären, warum ich in diesem Jahr beschlossen habe, Weihnachten bei euch zu verbringen.“ Sie klopfte mit einem Löffel gegen ihr Glas.
Alle verstummten und Emmeline ließ sich unwillig wieder auf ihren Stuhl fallen. Isabel sah in die Runde und hob dann an. „Meine Lieben, ihr habt euch sicher gewundert, weshalb ihr an diesen Feiertagen in den Genuss meiner Gesellschaft kommt.“ Johns Mutter bekam einen Hustenanfall.
„Ich kann euch beruhigen, es liegt nicht daran, dass ich das Ende meiner Tage nahen fühle und mich deshalb von euch verabschieden wollte.“ Emmelines Lippen formten sich zu einem stummen Schade.
„Ihr wisst sicher, dass ich seit Jahrzehnten aktiv die Belange meiner Heimat und die aller Schottinnen und Schotten vertrete. So kam es, dass ich ins Organisationskomitee der größten Zusammenkunft schottischer Clans seit vielen Jahrzehnten gewählt wurde.“
„Davon habe ich gehört“, meldete sich David zu Wort. „Einer meiner Mandanten hat mir erzählt, dass er dort hinkommen wird. Findet das Treffen nicht im August in Edinburgh statt?“
„Genau. Wir haben ein wunderbares Programm auf die Beine gestellt. Dudelsackgruppen aus verschiedenen Ländern werden auftreten, das Finale der Weltmeisterschaft der Highland Games wird an zwei Tagen stattfinden, es wird heimische Spezialitäten und Produkte in Hülle und Fülle geben. Bei der großen Clanparade werden Vertreter aller großen schottischen Familien in ihrer traditionellen Tracht mitmarschieren. Wir erwarten zehntausende Gäste aus aller Welt.“ Ein stolzes Lächeln lag auf ihren Lippen. „Es wird ein einzigartiges Erlebnis werden. Daher möchte ich, dass ihr alle dabei seid.“ Für einen Moment herrschte Stille. Wie üblich, erholte Renie sich am schnellsten von ihrer Überraschung. „Das wird total cool! Mum, bekomme ich dann einen Kilt mit dem Mackenzie-Muster?“
Bevor Maggie reagieren konnte, sprach Isabel wieder. „Renie, traditionsgemäß werden Kilts von den Männern getragen. Wir Frauen sind zu wichtigen Anlässen in ein langes Gewand gekleidet mit einer Schärpe in den Clanfarben.“
„Das könnt ihr vergessen. Ich zieh doch keinen lausigen Rock an. Das ist ja wohl total – “ Tommy verstummte mit schmerzlich verzogenem Gesicht. Maggie war ihm unter dem Tisch auf den Fuß getreten. „Tante Isabel, ich finde das eine großartige Idee. Dürfen auch angeheiratete Verwandte teilnehmen?“
„Natürlich. Ihr werdet Familienmitglieder kennenlernen, die in Neuseeland, Kanada, Australien, Holland oder sonstwo leben. Jeder Clan bekommt einen eigenen Pavillon zur Verfügung gestellt, der als Treffpunkt dienen wird.“
John ergriff das Wort. „Tante Isabel, ich werde gleich nach den Feiertagen Urlaub für diese Tage beantragen. Mit mir kannst du fest rechnen.“
Sein Vater nickte nachdrücklich. „Wir freuen uns, zu kommen, nicht wahr, Emmeline?“ Auch David und Annie sagten zu. Zufrieden blickte Isabel Mackenzie in die Runde.
„Maureen, für dich hätte ich noch ein besonderes Angebot, wenn du möchtest.“ Gespannt sah Renie auf.
„Wir bräuchten dringend jemanden für das Organisationsbüro. Wir werden mit Anfragen überhäuft und das Team kann den Ansturm ohne Verstärkung nicht bewältigen. Du würdest natürlich bezahlt und bekämst auch ein Zimmer in Edinburgh zur Verfügung gestellt.“, beeilte sie sich, hinzuzufügen.
Renie war ausnahmsweise so überrumpelt, dass sie für einen Moment sprachlos war.
„Hmm. Isabel, die Idee ist gar nicht übel, finde ich.“, ließ Johns Vater sich in die Stille hinein vernehmen. „Renie, ich denke, du könntest dieses Projekt auch im Rahmen deines Studiums nutzen. Natürlich sind es nicht gerade die Sitten und Gebräuche der Himba oder der Ubangi, die du studieren könntest. Jedoch könntest du zum Beispiel ein wenig genealogische Forschung betreiben und auch ein Bild davon bekommen, wie sehr die jahrhundertealte Kultur auch das heutige Leben in Schottland noch prägt.“
„Ich finde, du hast recht, Dad. Renie, du würdest eine Menge neuer Leute kennenlernen und mit diesem Job könntest du diese Monate doch noch sinnvoll nutzen. Du kannst später immer noch für eine Weile ins Ausland gehen.“
John konnte sehen, dass Maggie Tante Isabels Idee sehr entgegenkam.
Die alte Dame meldete sich noch einmal zu Wort. „Wir brauchen jemanden, der sich gern um die vielen verschiedenen Anliegen der Gäste kümmert, der nervenstark ist und auch in der größten Hektik nicht den Kopf verliert. Auch wenn ich noch wenig Gelegenheit hatte, dich genauer kennen zu lernen, Maureen: Ich bin überzeugt, dass du genau die Richtige bist.“
Renies Wangen glühten vor Freude über so viel Lob. „Tante Isabel“, begann sie dann feierlich, „danke, dass du mir so eine Aufgabe zutraust. Ich … mach´s!“ Alle applaudierten begeistert. „Darauf trinken wir!“, rief James Mackenzie. „Slainte mhath, wie wir Schotten sagen – Zum Wohl!“
Nach dem Essen halfen alle traditionsgemäß, den großen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer zu schmücken. Während sie Kugeln, Schleifen, Strohsterne und hölzerne Weihnachtsfigürchen anbrachten, erfüllte angeregtes Plaudern den Raum. Selbst Johns Mutter ließ sich von der harmonischen Stimmung anstecken und wandte sich in freundschaftlichem Ton an Isabel. „Unsere Renie wird gut bei dir aufgehoben sein. Sie war so traurig, als ihre Pläne für nächstes Jahr sich zerschlugen. Eine solche Aufgabe ist genau das, was sie jetzt braucht – sieh nur, wie glücklich sie aussieht.“
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