Von ihrem ersten Lohn, 320 Mark, kauft sie sich einen Plattenspieler und eine alte Ausgabe der Märchen der Gebrüder Grimm mit schönen Illustrationen. Wenn sie» Das kluge Gretel«, ihr Lieblingsmärchen, liest, fühlt sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt, als sie zur Strafe in den Keller gesperrt wurde und sich mit diesem Märchen den Hunger vertrieb. Sie liest die Märchen mit dem Gefühl, davongekommen zu sein, vorerst.
Für den restlichen Monat bleiben ihr schlappe 28 Mark. Doch es gibt auch andere Möglichkeiten, um über die Runden zu kommen. Sie klaut bei jeder Gelegenheit; schon im Kinderheim war sie die geschickteste Diebin, einmal hat sie sogar vor den Augen der Verkäuferin zehn Schokoladentafeln mitgehen lassen.
Bevor sie frühmorgens zur Arbeit geht, legt sie die Platte auf, setzt immer wieder die Nadel zurück, um den einen Titel zu hören:»Summertime «von Janis Joplin, ihr Lieblingslied in diesem Winter.
Mit dem Fräulein versucht sie auszukommen, obwohl sie sich längst nicht mehr alles gefallen lässt. Knipst die Alte abends ihr Licht aus, macht April es wieder an, das Gekeife überhört sie, schaltet auf Durchzug, darauf versteht sie sich.
Sie hat sich Kohlen besorgt und versäumt, ihre Miete zu bezahlen. Sie ernährt sich von Tütensuppen und dem Frühstück aus dem Kombinatskiosk. Während der Arbeit versinkt sie in Tagträumen, in denen sie interessante Menschen kennenlernt. Abends in ihrem Zimmer schreibt sie lange Briefe an einen unbekannten Geliebten, dem sie sich in wechselnden Rollen vorstellt, mal als Studentin der Tiermedizin, mal als Schauspielerin oder einfach nur als Abenteuerin.
An einem besonders frostigen Tag legt sie bis in den späten Abend Kohlen nach. Als sie nachts von einem Hustenanfall aufwacht, ist das ganze Zimmer verqualmt. Verschlafen macht sie Licht und entdeckt auf dem Ofen ihren schwelenden Koffer. Noch im Halbschlaf reißt sie das Fenster auf, schleppt den Koffer in den Flur, lässt ihn benommen auf den Dielenbrettern stehen, taumelt ins Bett zurück und schläft sofort wieder ein. Sie wird abermals geweckt, diesmal von einem ohrenbetäubenden Krachen, und als sie die Tür öffnet, kommen ihr aus den Rauchschwaden zwei Feuerwehrmänner entgegen. Fräulein Jungnickel irrt, nur mit einem Nachthemd bekleidet, durch den Flur, einer der Männer versucht sie zu beruhigen, und der Vogel krächzt gotterbärmlich um sein Leben. Die Männer tragen den Koffer raus, spritzen den Boden ab, einer ruft: Wie kann man nur so bescheuert sein.
Mit dem Koffer verliert April alles, was sie an die Vergangenheit bindet: Briefe, Tagebücher, Dinge, die sich im Laufe ihres Lebens angesammelt haben. Als es wieder still ist, kann sie lange nicht einschlafen. Vielleicht war der Brand ein Zeichen, ein Zeichen für einen Neuanfang, doch sie hat keine Ahnung, wie der aussehen soll.
Seit diesem Vorfall lässt Fräulein Jungnickel sie nicht mehr aus den Augen. Die Alte betritt ihr Zimmer, wann es ihr passt, kommentiert in sächsischem Singsang jedes Stäubchen, folgt ihr sogar zur Toilette und wartet vor der Tür. Sie beschwert sich bei ihrem Vogel lautstark über sie, und immer wieder fällt das Wort Dest.
Freunde aus ihrer alten Clique statten April einen Einweihungsbesuch ab. Sie kommen aus den Dörfern, aus der Pampa angereist, zu ihr, die jetzt in der Stadt wohnt. Während ihrer Lehre hat sie die gesamte Freizeit mit ihnen verbracht, ist mit ihnen auf dem Motorradrücksitz durch die Gegend gerast, immer auf der Suche nach neuen Vergnügungen: nach Brünn zum Autorennen, Ziegenkäse essen, Schwarzbier trinken; im März das erste Anbaden in der Ostsee; einmal haben sie sogar in einer Kirche übernachtet.
Schwarze Paul hat zwei Kisten Bier dabei, er ist Schafscherer, mit seinen mächtigen Oberarmen könnte er fünf von ihrer Sorte tragen. Er begrüßt sie, als hätte er sich gestern erst von ihr verabschiedet, na, Rippchen, sagt er, ganz schön kalt in deiner Bude. Er zeigt ihr einen blauen Fleck von einem Schafshuf auf seiner Hand, das Drecksvieh, sagt er, beinahe hätte ich es erwürgt.
Sie mag ihren Spitznamen, Rippchen klingt tröstlich; früher hatten die Jungs noch ganz andere Namen für sie: Gerippe, Speiche, Hungerhaken.
Dann kommt Sputnik, benannt nach einem der zahlreichen sowjetischen Satelliten, nur sie konnte sich in der Schule im Langstreckenlauf mit ihr messen. Sputnik begutachtet skeptisch ihr Zimmer, spießige Tapete, sagt sie, und wer ist die Alte da draußen?
Die Alte war nie jung, sagt April, ist schon alt geboren, und mit ihrem Reinlichkeitsfimmel würde sie mir sogar die Nase putzen, wenn ich nicht aufpasse. Sie erzählt, wie Fräulein Jungnickel sie überwacht — schnell sind sich alle einig: Das alte Fräulein ist verrückt.
Das kannst du dir nicht gefallen lassen, sagt Schwarze Paul, und sein leichter Silberblick verrutscht bedrohlich.
Am späten Nachmittag ist die ganze Bande in ihrem Zimmer versammelt. Sie trinken, rauchen, reden wie Veteranen von alten Zeiten, Mücke parodiert Walter Ulbricht, sie singen Schlager aus den Sechzigern. Mücke ist noch dünner als sie, seine Gesichtszüge sind scharf geschnitten wie die einer Marionette. April hat ihn nie über seine Krankheit sprechen hören, doch laut Sputnik ist er ein Todeskandidat. Abends fahren sie mit dem Bus in die» Riviera«, eine Dorfdisco, und reihen sich geduldig in die Schlange ein. Als der pockennarbige Türsteher sie endlich durchwinkt, sind die besten Plätze am Kachelofen bereits besetzt. Sie wärmen sich mit der Ampel auf, einer Likörmischung aus Pfeffi, Apricot und Kirsch; Mücke schmeißt eine Runde nach der anderen. April bahnt sich einen Weg durch den überfüllten Saal, die Stimmung brodelt, aufgedreht springt sie umher und schafft es, auf die Bühne zu klettern, um sich beim Discjockey» April «von Deep Purple zu wünschen. Im Morgengrauen hat sie überhaupt keine Lust, nach Hause zu fahren, sie will nicht aufhören zu tanzen, aber noch während» Je t’aime «läuft, geht die grelle Festbeleuchtung im Saal an. Sie hat mit Frieder getanzt, eng an ihn geschmiegt, und als die Musik verstummt, verharrt sie regungslos, wie ein Standbild, sie schließt die Augen und erwidert Frieders Küsse.
Frühmorgens wacht sie als Erste in ihrem Zimmer auf, ihre Freunde liegen in Schlafsäcken auf dem Boden, es riecht nach Alkohol und kaltem Rauch. April ist zittrig und müde. Vor dem Fenster entdeckt sie einen funkelnden Eiszapfen, von dem sich Tropfen lösen, sie glaubt, die Tropfen mit einem Knall platzen zu hören. Frieder liegt neben ihr auf dem Sofa. Sie versucht, sich an die gestrige Nacht zu erinnern, doch ihr fällt nur die Knutscherei ein. April ist verliebt, was nichts bedeutet, sie ist oft verliebt. Sie kann mit einem Fremden einen Blick wechseln und nächtelang von ihm träumen, eine kurze Begegnung reicht aus, um ihr Herz höherschlagen zu lassen, aber es hält nie lange an. Frieder hat einen schönen Mund, allerdings sind seine Küsse hart und trocken. Er hat sich für drei Jahre bei der Armee verpflichtet, weil er Arzt werden will. Bei den Mädchen steht er nicht nur wegen seines Aussehens hoch im Kurs, er trägt Levi’s und versteht was von Musik. Sie klettert vorsichtig über ihn hinweg, und während sie in der Küche den Wasserkessel aufsetzt, hört sie keinen einzigen Vogeltriller aus dem Zimmer der Jungnickel. Nach und nach werden alle wach, Mücke findet noch eine Flasche Bergmannsschnaps in seinem Rucksack, das Gesöff ist hochprozentig, sie nippt nur daran. Irgendwann kommt Schwarze Paul auf die Idee, der Alten und ihrem Vogel einen Besuch abzustatten. Obwohl April über seinen Vorschlag nicht begeistert ist, stimmt sie zu.
Lass uns eine Münze werfen, sagt Mücke, Kopf oder Zahl, und der Sieger muss vor der Alten nackt ein Lied trällern.
Kopf, sagt Schwarze Paul und gewinnt. Er zieht sich aus, als sei nichts dabei, Sputnik pfeift anerkennend, alles an ihm ist Furcht einflößend groß. Spätestens jetzt möchte April die ganze Sache rückgängig machen, doch da ist Schwarze Paul schon unterwegs.
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