«Niemand«, so sein Abba später,»darf so mit dir umspringen. Recht hattest du. Lehn dich auf, wenn sie dich quälen. Laß dir nichts gefallen. Stolz bin ich auf dich. Es ist gut, dein Abba zu sein. Hörst du, Tuschtusch. «Er hielt ihn dabei fest an der Hand und führte ihn über die Straße.»Wir, Ethan, lassen uns nicht mehr auf den Kopf spucken, um danach zu sagen, daß es regnet. Merk dir das, Ethan. Nie mehr! Du bist ein Sabre. Hörst du, Tuschtusch.«
Die Eltern und er waren eine Bastion. Er lernte, zwischen ihrem Auftreten nach außen und ihren inneren Wahrheiten zu unterscheiden. Sie hatten ihre eigene Sprache, die niemand sonst verstand, und waren mißtrauisch gegen die Sätze der anderen. Ethan kannte den Dünkel beider Seiten. Er erinnerte sich an jene Zeit, da er sich in Israel für sein Leben in Osterreich und in Wien für das Geburtsland zu rechtfertigen hatte. In Tel Aviv sagte ein einstiger Freund aus dem Kindergarten, die Rosens seien doch Abtrünnige und Verräter, aber in Wien erklärte ihm ein Klassenkamerad, der jüdische Staat in Zion sei doch nichts als Rassismus. Seine Existenz stand unter Mißkredit.
Allmählich nahm der Verkehr in den Straßen von Tel Aviv zu. An einer Ampel kamen sie zwischen einem Müllwagen und einer Pferdekutsche zu stehen. Eine junge Frau, das Haar aufgesteckt zum Turm, ging über den Zebrastreifen. Sie sah in das Auto und lächelte Ethan zu. Rudi nickte zurück.
Ethan starrte ihn an. Rudi: Das war der andere, der sich in jede Ritze seiner Existenz zwängte. Als wäre er sein ewiger Widerpart. Rudi mißverstand den Blick, erkannte nicht, den Vorwurf darin, sondern sagte:»Sie haben uns beide belogen.«
Ethan hörte den Worten nach. Sie waren ein Echo seiner eigenen Mißbilligung, aber jetzt klangen sie fremd. Wieder kochte Wut in ihm hoch, und diesmal wußte er nicht, auf wen. Die Ampel sprang auf Grün. Er gab Gas und bog in die Hauptstraße ein.
Als das Meer auftauchte, schaute Rudi auf seinen Arm.»Ich habe meine Uhr vergessen. «Er schlug sich mit der Hand auf das Knie und schüttelte den Kopf. Aber er wolle auf keinen Fall zurück zu Felix und Dina. Nie wieder. Ob Ethan bereit wäre, ihm das Erbstück zu schicken? — Er wartete die Antwort gar nicht ab, sondern fuhr fort:»Ich will sie nie mehr sehen. Zu viele Lügen. «Er sah Felix' Kassetten in der Ablage unter dem Armaturenbrett durch. Es waren Songs von Frank Sinatra, Sammy Davis Junior und Barbra Streisand. Rudi sagte:»Immerzu von der Notwendigkeit der Erinnerung sprechen, aber die eigene Geschichte verfälschen ohne Ende. «Zwei Teenager in Badehose und Hemd gingen mit ihren Angeln Richtung Strand.»Der neue Text über Dov ist noch nicht gedruckt worden. Zum Glück. Dieser ganze Quatsch. Ich hab das bloß für Felix geschrieben.«
Ethan fuhr langsam an den Rand. Er schaute in Fahrtrichtung.»Bloß für Felix? Nicht auch für Noa?«Er sah den anderen an. Rudi schwieg. In der elterlichen Wohnung hatte er ihn zärtlich umarmt, und nun dieser Angriff. Aber ebenso unerwartet wie der Vorwurf kam das Lachen. Ethan kicherte, ein Glucksen erst, das in Prusten überging, dann tätschelte er unversehens mit der flachen Hand Rudis Hinterkopf.»Bild dir nichts drauf ein. Ich bin auch ein Bastard. Wir sind es beide.«
Rudi grinste verlegen. Er wußte nicht recht, was der andere im Schilde führte, schielte nach Ethan. Der sagte:»Du spielst immer über Bande, über die Familienbande. Mir brauchst du nichts vorzumachen. Ich habe dich durchschaut. Das war von Anfang an so. Seit dem Nachruf auf Dov. Jeder Gedanke kam mir bekannt vor. Kein Wunder, oder?«Ethan feixte.»Du denkst nicht. Du denkst dich nur hinein. Du schreibst nicht für dich wie andere. Nein. Du schreibst von Anfang an für Felix, für Dina. Für Wilhelm Marker die gemeinsame Erklärung. Auf jeden Fall für die anderen. Nur lügen — lügen, das tust du für dich allein. «Ethan redete sich in Rage:»Du wirfst Felix seine Erinnerungen vor? Du nimmst den Überlebenden sogar Auschwitz übel.«
«Von Überlebenden habe ich nicht geredet. Auch nicht von Auschwitz. «Rudi schüttelte den Kopf.»Ich weiß ja nicht, in welchem Film du gerade steckst, aber du solltest ihn schnell anhalten, auswerfen und zurück in den Videoladen bringen. Ich suchte nur nach meinem Vater.«
«Sie wollten das Beste für uns.«
«Komm mir doch nicht so. Meine Mutter wollte nur das Beste und verschwieg mir deshalb den Namen meines Vaters. Meine Pflegemama wollte nur das Beste und half mir nicht, ihn herauszufinden. Mein Erzeuger war ein Heiratsschwindler und wollte sicher nur das Beste für seine Familie. Und Felix? Dieser Strohmann von einem Liebhaber, dieser ewige Platzhalter, dieser Lückenbüßer! Er hat genau gewußt, wie sehr ich die Wahrheit suchte, und log mir ins Gesicht. Und du? Kaum eine Stunde ist vergangen, seitdem du Felix heftiger angegriffen hast als ich. Jetzt stellst du dich schützend vor ihn, als wäre nichts gewesen. Die Wahrheit erkennst du doch nur an ihrem Gegenteil. Und die Liebe? Seit wann interessierst du dich dafür? Du bemerkst Noa erst, wenn sie mich bemerkt. Ohne mich hättest du sie längst vergessen. Ohne mich wüßtest du immer noch nichts von Dov. Und von Dina. Und von Felix. Ohne mich wärst du noch in Wien. Bei Marker! Von mir wurdest du nicht belogen, sondern von deiner Mutter. Von Felix. Von Dov. Von deinem Vater. Wer immer das ist. Von beiden zusammen.«
Ethan hörte aus Rudi sich selber reden, und im selben Augenblick dachte er, daß es lächerlich war, sich so aufzuregen. Geheimnisse waren nun einmal der Kern aller Familien. Ohne Märchen keine Erziehung. Ohne Dunkel kein Elternzimmer. Ohne Heimlichkeit kein Heim. Er sagte:»Ja, sie haben uns angelogen. Aber im Unterschied zu dir logen sie der Wahrheit zuliebe. Du hingegen lügst, wenn du die Wahrheit sagst.«
Rudi lachte höhnisch.»Willst du es ausprobieren? Soll ich davon schreiben? In der Zeitung. Die Wahrheit. Den wahren Nachruf auf deinen Vater! Auf beide zugleich! Auf den leiblichen und auf den lieblichen. Diesen Artikel werde ich jetzt schreiben. Na, wie schmeckt dir das? Ich werde euch in eurer ganzen Häßlichkeit darstellen.«
Ethan holte nicht aus, ließ seine Faust nicht gegen Rudis Nasenbein knallen. Kurz blitzte es auf, das Bild vom anderen, der sich vor Schmerz krümmte. Ethan trat nicht zu, bis der andere aus dem Auto stürzte und im Rinnstein lag. Nichts dergleichen. Er saß nur erstarrt da. Er ließ sein Fenster heruntergleiten und sah hinaus auf die Straße. Er atmete durch. Das Echo der Worte hallte in ihm wider.»Den wahren Nachruf auf deinen Vater! Auf beide zugleich!«In der Ferne kam ein Lastwagen näher, und plötzlich griff er nach Rudis Laptoptasche auf dem Rücksitz und schleuderte sie auf die Fahrbahn.
«Bist du verrückt«, schrie Rudi und hob den Arm. Aber obwohl er der Größere war, fand er nicht die Kraft, um auf den anderen einzuprügeln. Ethan, der die emporgereckte Faust sah, explodierte jetzt erst recht und schlug dem anderen ins Gesicht, trommelte mit beiden Händen auf ihn ein. Rudi konnte sich kaum wehren, duckte sich weg, erst das Hornsignal des Lasters schreckte beide auf. Rudi riß die Tür auf, stürzte auf die Straße, packte die Tasche und sprang auf die andere Seite, während der LKW mit Gehupe vorbeiraste.
Sie schauten einander an, in wechselseitiger Verachtung, und dann ließ Ethan den Audi anrollen, während Rudi ihm mit offenem Mund nachsah. Er fuhr dreihundert Meter weiter und blieb stehen. Er stieg aus, worauf Rudi lossprintete, sich abmühte, ihn einzuholen. Ethan ging zum Kofferraum, lud das Gepäck aus, und Rudi schrie, fluchte, kam angekeucht, war bloß Meter vom Wagen entfernt, als Ethan sich wieder ins Auto setzte, gemächlich, um im letzten Augenblick Gas zu geben, dann wieder abzubremsen und erneut zu warten, bis Rudi den Wagen fast erreicht hatte — Ethan fuhr davon.
Rudi hetzte dem Audi hinterher, als könne er die Limousine zu Fuß einholen, das Gepäck hatte er einfach abgestellt. Noch einmal stoppte Ethan und sah den anderen im Rückspiegel heranstürmen, aber wieder wartete er nur, bis Rudi nah genug war, um glauben zu können, Ethan würde ihn nicht mitten auf der Straße zurücklassen, dann brauste er endgültig davon.
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