«Das ist nicht die ganze Geschichte«, wisperte Felix.»Ich kann nicht Ethan als meinen Sohn anerkennen und ein weiteres Kind von Dov nicht. «Felix nahm einen Schluck Wasser.»Ich habe nur gesagt, ihr seid Brüder. Nicht mehr.«
Rudi schüttelte den Kopf.»Es war alles gelogen.«
Dina meinte:»Felix hatte keine bösen Absichten.«
Rudi sagte bloß:»Wie konntet ihr nur? Ich suche meinen Vater. Seit Jahren.«
«Du gehörst doch zu uns«, sagte Dina, aber er winkte ab. Nein. Und nein, er sei übrigens auch nicht der Sohn von Dov Zedek. Er sei nicht Ethans Bruder.
«Wir beide sind keine Brüder. Das Ergebnis ist eindeutig. «Er war nicht mit Ethan verwandt, und deshalb konnte er auch nicht von Dov gezeugt sein, und folglich war es unmöglich, ihn zur erweiterten Familie der Rosens zu zählen, und darum war er mit ihnen nicht versippt und nicht verschwägert, selbst wenn alle Kinder von Dov den Rosens zugerechnet würden und selbst wenn allenfalls noch lebende Abkömmlinge des Hauses Gerechter im Sinne jener höheren Vererbungslehre, die Felix und Dina vertraten, in die Mischpoche Rosen aufgenommen würden, selbst dann wäre er immer noch keiner von ihnen, sondern nichts als ein Parvenü, ein habitueller Assimilant, also das, was er letztlich immer schon war, wofür er von jeher bekannt war und womit er sogar seinen Lebensunterhalt als Kulturwissenschaftler auf allen Erdteilen verdiente, weil er sich überall einfinden und anbiedern konnte.
Der Himmel hellte auf. Der Morgen kündigte sich an. Auf den Straßen war kaum Verkehr. Rudi stand auf. Wortlos ging er in das ehemalige Kinderzimmer. Sie sahen ihn die Schränke öffnen, seine Kleidung zusammenfalten. Er packte die Koffer.
Felix stand auf. Er wankte. Der abendliche Anfall hatte seine Spuren hinterlassen. Er ging gebeugt auf Rudi zu. Den Kopf hielt er dabei schief.»Bleib hier. «Rudi stopfte die Socken ineinander.»Überschlaf es. Wo willst du jetzt ein Bett finden?«Rudi strich die Unterhosen glatt.
«Ich muß alleine sein. Wenigstens ist der neue Artikel über Dov noch nicht erschienen. «Er sortierte die Unterhemden.
«Was hat das damit zu tun?«
Rudi faltete die Hemden.»Es war alles gelogen.«
Felix preßte seine Hand ins Kreuz und ächzte. Er wankte. Noa sah es und stand auf, machte einen Schritt auf ihn zu. Er humpelte zurück zum Sofa.
Rudi sammelte seine Bücher ein und klappte den Laptop zu. Noa ging zu ihm und faßte ihn von hinten an der Schulter. Rudi drehte sich um, und sie umarmte ihn. Fest. Sie streichelte Rudi. Sie lächelte ihn an.»Bleib hier«, sagte sie.
«Komm du mit mir.«
Sie starrte ihn an. In ihrem Rücken war Ethan aufgestanden. Dann sah er, wie sie den Kopf schüttelte.»So nicht.«
Rudi löste sich von ihr, und da merkte sie, daß er, der die letzten Wochen seine Augen nicht von ihr hatte lassen können, auch ihr gegenüber zum Fremden geworden war.
Er hatte sich nicht nur von der Familie Rosen abgewandt, sondern auch von ihr. Sie blickte ihm in die Augen. Er drehte sich weg und schloß den Koffer zu.
Als er seine Computertasche schulterte, schritt Ethan auf ihn zu und drückte ihn an sich. Er küßte ihn auf die Wangen, und plötzlich waren Tränen in Rudis Augen. Er blinzelte sie fort. Die beiden Männer, die gerade erfahren hatten, keine Brüder zu sein, schienen einander verwandter denn je. Rudi nickte und wischte sich übers Gesicht, aber dann wich er zurück. Er lächelte die anderen an, so wie einer lächelt, der sich aus einer Affäre ziehen möchte, schüchtern und verschämt, als versuche er, einen, der ihm zu nahe kommt, auf Distanz zu halten. Es war, als fürchtete er jede weitere Berührung mit einem Mitglied der Familie Rosen. Sie tat ihm weh. Rudi, das war offenkundig, hatte Angst, den Abschied nicht zu schaffen.
Er schleppte das Gepäck in den Flur und wandte sich Dina und Felix zu.»Ich kann nicht hierbleiben. Der neue Nachruf, den ich geschrieben habe, nur um seine, um euer aller Geschichte zu schönen, wird nicht erscheinen.«
«Niemand zwang dich dazu.«
«Es waren Lügen. Lügen für zwei Väter. Lügen für das ganze Land der Väter. Lügen fürs Vaterland.«
«So war es nicht.«
«Ich habe über Dov recherchiert.«
«Wir wollten aus Luftmenschen Kämpfer machen. Aus Kaffeehausjuden Bauern.«
Rudi feixte:»Das ist euch auch gelungen. Besser als erhofft.«
Dina rückte näher an Felix heran, griff nach seiner Hand, dann sagte sie:»Ihr wollt die Wahrheit? Seid ihr sicher? Könntet ihr denn überhaupt damit leben? Eure Generation? Ihr seid doch ewige Kinder. Was ist ein Vater?«
Felix sagte:»Hör auf, Dina, Dov liegt unter der Erd.«
«Laß mich ausreden, Felix. Er will wissen, wer Dov Zedek war? Ich kann es ihm sagen. Wir haben Kinder sterben gesehen… Haben wir gelogen, um euch zu schaden? Wir haben geglaubt, es sei zum Besten. Konnten wir wissen, daß Dov nicht mit Karin Klausinger im Bett war? Es gibt Schlimmeres, als der Sohn von Felix Rosen zu sein. Und wer brachte uns überhaupt auf die Idee, zu sagen, Felix sei dein Vater? Sind wir dem Herrn aus Osterreich nachgerannt oder er uns? Du bist ihm nachgelaufen. Sogar als Felix im Spital war. Halbtot!«
«Du übertreibst, Dina. Ich war nicht tot.«
«Ein Brief nach dem anderen. Die Bewerbung am Institut. Der Nachruf auf Dov! Der verzweifelte Sohn. Das verlassene Kind. Ein einsamer Balg. Er wollte das Ammenmärchen. Er wollte es von uns.«
«Ihr hättet es trotzdem nicht tun dürfen«, sagte Ethan.
«Was war, um Gottes willen, so schlimm daran? Ist Felix nicht der Vater dieser Familie? Gibt es nur eine Wahrheit?«fragte Dina.
Rudi stellte seine Tasche ab. Der Koffer stand in der Garderobe. In diesem Moment dachten alle, er würde nicht gehen. Er kam nicht los von ihnen. Er würde bei Felix und Dina bleiben. Erst diese Nacht. Dann einen weiteren Tag. Und hierauf noch einen. Dina sagte:»Sind wir also Lügner?«
«Das habe ich nicht behauptet.«
«Ich aber. Wir sind Lügner! Na und? Wollten wir einen Mord vertuschen? Wir wollten eine Familie gründen. Eine Familie nach Auschwitz.«
Rudi höhnte:»Immer das Niemals-vergessen! auf den Lippen. Aber dann die üblichen Ausreden. Jugendreisen nach Auschwitz, um die Erinnerung hochzuhalten. Aber die eigene Vergangenheit fälschen…«
Felix richtete sich auf. Er ächzte:»Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen für meine Erinnerung. Ich muß mir das nicht vorwerfen lassen. Nicht das. Nicht in meinem Haus. Du wolltest gehen. Ich halte dich nicht auf. Ich nicht!«
Als hätte er nur auf dieses Wort gewartet, rannte Rudi in die Garderobe:»Bin schon weg!«
Er versuchte, den Koffer hochzuheben, aber statt dessen riß der Griff ab. Er schleuderte ihn auf den Boden und zog das schwere Gepäckstück an einem Riemen hinter sich her.
Noa rief:»Felix, laß ihn nicht so gehen. «Felix, käsig, zittrig, schrie:»Mir meine Erinnerung vorwerfen!«
Ethan fragte:»Seid ihr alle verrückt geworden?«
«Wir? Er will doch gehen!«
«Ihr seid ja alle nicht normal!«
Felix blähte die Backen und atmete schwer.
Ethan packte den Koffer und sagte:»Komm, Rudi, das hier ist nicht auszuhalten. Komm. Noa.«
Sie musterte die beiden Männer:»Ich bleibe da.«
Später würde Ethan behaupten, er sei es nicht gewesen, der das Gepäck hinausgeschleppt und den andern hinter sich hergezogen hatte. Aber Noa sah genau, daß Ethan die Initiative ergriff, für die Rudi zu unentschlossen war. Sie sah die Verwirrtheit in Rudi Klausingers Gesicht, und sie sollte sich noch Jahre später fragen, was geschehen wäre, wenn Ethan nicht trotzig vorangestürmt wäre.
Dina schüttelte den Kopf. Felix ächzte und griff sich ins Kreuz, als fühle er wieder den alten Schmerz. Noa nahm das Glas Whiskey zur Hand, das Ethan stehengelassen hatte, und trank es leer. In einem Zug.
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