Felix keuchte. Er saß da, als hätte ihn ein Auto überrollt. Er flüsterte:»Wir wollten ihm einen Gefallen tun!«
Daraufhin Dina:»Das war der Fehler. Reg dich bloß nicht auf. Aus und vorbei. Vergiß es. «Sie legte das Mobiltelefon weg und griff zur Fernbedienung. Sie drückte den Knopf und schaltete die Lautstärke hoch. Der Gesang schwoll an. Laila, laila, haruach goveret.
9
Er warf das Gepäck in den Kofferraum. Sie stiegen in den Audi von Felix. Ethan ließ den Motor an, parkte aus und preschte los. Die Reifen quietschten über den Asphalt der Tiefgarage. Der Boden war frisch gestrichen. Rasengrüne Flächen, von signalgelben Linien unterteilt. Er drückte auf den alarmroten Knopf der Fernbedienung, und das Tor schwang hoch, gleichzeitig senkten sich draußen Pfeiler in den Beton. Ethan grüßte in die Videokamera. In der Loge im Erdgeschoß versah der Portier seinen Dienst und würde ihn, den Sohn von Felix Rosen — aber war er das überhaupt? — erkennen.
Das Fahrzeug schoß die Ausfahrt hoch. Er war voller Wut. Nichts hatten sie verstanden. Diese Selbstgerechtigkeit trotz der jahrelangen Lügen! Sie waren bereit gewesen, ihn dumm sterben zu lassen. Sie hatten ihm die Wahrheit vorenthalten wie einem unmündigen Kind. Und welche Ausreden sie bemühten! Sie hätten nur das Beste für ihn gewollt. Klar. So war es von jeher. Sie bestimmten, was das Beste war.
Sie rechtfertigten sich damit, eine Familie, einen Staat, eine Welt gegründet zu haben. Immer und überall lief es gleich. Zunächst wurde geleugnet, was geschehen war. Dann wurde gesagt, es sei ohnehin besser, nicht daran zu rühren. Dann das Gejammer: Kaum sei Gras über die Geschichte gewachsen, komme irgendein Kamel und fresse es ab. Und dabei sei da doch einst gar nichts gewesen. Nur Wüste. Und das bißchen Haus, Feld und Wiese, das es gegeben haben mag, sei doch gar nicht der Rede wert.
Felix hatte nur den Kopf geschüttelt, wenn Ethan als Jugendlicher rebellisch geworden war:»Nu, was soll ich dir sagen: Einen schlechten Vater hast du!«Er war abgespeist worden wie ein dummer Junge, und das Schlimmste war, erkennen zu müssen, nicht gelassener, nicht erwachsener umgehen zu können mit den Tatsachen, die er vor wenigen Stunden erfahren hatte. Er reagierte auf die Nachricht, nicht der Sohn seines Vaters zu sein — wie widersinnig und lächerlich allein die Worte klangen, irgendeiner sei nicht der Sohn seines Vaters! — , wie ein dreijähriger Bub, dem sein Teddybär weggenommen worden war. Seine Wut richtete sich gegen ihn selbst, aber sein Zorn zielte auf die Eltern. Hatten sie ihn nicht zu dem gemacht, der er war und nicht sein wollte?
Da war auch ein anderer Schmerz. Er dachte an Noa. Sie hatte zu den anderen gehalten. Zu den Eltern. Zum anderen. Zu Rudi.»Bleib hier«, hatte sie gesagt. Oder hatte er auch gehört:»Bei mir«?
Rudi saß neben ihm und hielt das Mobiltelefon ans Ohr. Er sprach mit der Auskunft und erkundigte sich nach den Nummern verschiedener Hotels. Ethan war bereits Richtung Strandpromenade abgebogen. Er hatte nicht daran gedacht, eine bestimmte Unterkunft anzusteuern. Er wollte sie alle abklappern. Es gab an der Küste genug von diesen Kästen: Carlton, Sheraton, Hilton. Manche Kette war sogar in doppelter Ausführung vertreten. Die typische Wabenarchitektur und unzählige Balkone. Blick aufs Meer. Aber nun hörte Ethan, daß Rudi ein Zimmer in Herzliya suchte. Kaum hatte er die Reservierung bestätigt, rief er bei der Fluglinie an, um seine Rückreise für den nächsten Tag zu fixieren.
Ethan erinnerte sich an jene Jahre, als sie noch keine Wohnung in Tel Aviv hatten. Sie waren in einer jener Bettenburgen an der Küste abgestiegen und in einer Suite untergekommen. Sie hatten damals in Chicago gelebt. Noch war die amerikanische Metropole nicht vom späteren Aufschwung erfaßt worden. Eine Stadt aus Vierteln, die kein Ganzes bildeten, eine Stadt voll offener Wunden. Der Frost im Winter. Der Wind, der über den See peitschte. Hochhäuser, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Das IBM Building, die dunklen Glasfassaden von Mies van der Rohe. The Rookery, der neoromanische Wolkenkratzer von Daniel Burnham. Der Sears Tower, das Turmhaus aus Quadern. Im Sommer die Reise nach Israel. Damals hatten sie das Land und die Stadt mit den Augen von Fremden gesehen. Die Verwandten und Freunde waren in die Lobby gekommen, um sie dort bei einem Clubsandwich zu sprechen. Er war den ganzen Tag am Pool gesessen. Allein.
Er erinnerte sich, wie er als Wiener Volksschulkind in sein Geburtsland reiste und die einstigen Freunde aus dem Kindergarten traf. Sie sagten ihm, er sei kein echter Israeli mehr, während ihre Eltern das Gegenteil behaupteten und ihm mit wehmütigem Lächeln versicherten, er sei ein richtiger kleiner Sabre. Die Stimmen der Großen wurden dann sehr hoch und dünn, und es klang ein wenig wie das tantige» Du bist ja schon ein ganz ein Großer«, das er von seiner Verwandtschaft ständig zu hören bekam.
Die Wohnung in Wien hatte ihn von Anfang an begeistert. Die Räume waren höher, als er es je gesehen hatte. Der Weg hinaus schien unheimlich lang und lange unheimlich. Er mußte durch endlose Korridore gehen, an Mezzanin und Parterre vorbei, Schwingtüren aufdrücken, um dann an Portale zu geraten, die nicht zu bewegen waren. Um aus dem Haus zu kommen, waren ins Holz des Tores Pforten eingeschnitten worden. Wollte er sie öffnen, brauchte er einen Schlüssel.
In Tel Aviv hatten die Türen offengestanden. Er war mit Freunden um die Häuser gezogen. Sie hatten im Hof die Katzen aufgescheucht. Nach dem Sechstagekrieg lagen noch Sandsäcke vor den Eingängen. Sie hatten Gefechte nachgespielt, waren über Gartenmauern gesprungen und Fassaden emporgeklettert. Ganz anders in Osterreich. An seinem ersten Tag in Wien war er aus dem Haus gelaufen. Aus Neugier. Er hatte nach Kindern gesucht und war sicher gewesen, dafür nicht weit gehen zu müssen. Die Eltern hatten ihm erklärt, er würde auf der Straße keine Spielkameraden finden, doch er hatte sich einfach davongestohlen. In der Wiener Operngasse der sechziger Jahre war er dagestanden, stumm und ratlos; kein Gleichaltriger weit und breit, sondern bloß Erwachsene. Autos donnerten vorbei.
Im Kindergarten gingen alle im Gänsemarsch zur Toilette. Es nützte nichts, wenn Ethan erklärte, er müsse gar nicht. Wer nicht gehorchte, dem wurde gedroht, seine Ohren würden rot gemacht.»Ima, sag ihnen, daß ich schon daheim auf dem Klo war. «Dina sprach mit den Erzieherinnen, bat sie, ihn nicht zum kollektiven Stuhlgang zu zwingen. Ethan begriff nicht, weshalb die anderen Kinder nicht auch rebellierten. Tante Hedwig sah ihre Autorität in Frage gestellt. Kaum war die Mutter gegangen, zerrte sie ihn zur Toilette. Sie packte ihn am Schopf. Er heulte vor Wut. Sie brüllte ihn an, zog ihm die Hose herunter, zwang ihn aufs Klo. Nach einigen Momenten befahl sie ihm, sich die Hände zu waschen, dann stieß sie ihn hinaus. Er taumelte weg, benommen vom Weinen. Im Spielzimmer würgte es ihn, und er mußte sich übergeben. Jetzt schrien sie zu zweit auf ihn ein. Tante Hedwig putzte ihn vor allen anderen herunter. Später beklagte sie sich beim Vater, der gekommen war, um den Buben abzuholen. Felix hörte sich alles stumm an. Ethan war in sich zusammengesunken. Er wußte nicht mehr, wie ihm geschah. Die Großen hatten sich gegen ihn verschworen. Die Erwachsenen waren unter sich und weit über ihm. Papa blieb reglos, während Tante Hedwig auf ihn einredete. Ethan sah den Zorn des Vaters, als sie von seiner Ungezogenheit erzählte.
Zunächst Schweigen, nachdem sie zu Ende gesprochen hatte, dann brüllte Abba los, doch zu Ethans Erstaunen traf die Wut nicht ihn, sondern Tante Hedwig. Was sie sich einbilde, wer sie sei, seinem Sohn sagen zu wollen, wann er auf die Toilette zu gehen habe. Wie sie es wagen könne, dem Kind vorzuwerfen, daß es sich übergeben mußte. Und so etwas nenne sich Erzieherin? Keinen Tag länger werde sein Ethan hierbleiben. Sie aber solle nicht denken, ungeschoren davonzukommen. Dann streichelte Felix Ethan über den Kopf und nahm ihn mit.
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