Das ist etwas, was niemand in meiner Familie je war.
Und wenn sie im Stollen Maschinen bauen, die alle Gente ganz anders verbinden sollen als bisher, weil der Löwe nicht will, daß welche allein sind, so ändert das nichts: Ich werde fortan immer allein sein.
Eine sehr ruhige innere Stimme fand, das sei gut.
«Ist es so?«sagte er halblaut in die Stille, ohne zu wissen, ob er der inneren Stimme damit eigentlich wirklich widersprochen hatte oder nicht.
Als es dämmerte, begegnete Dmitri einem verrücktgewordenen Überlebenden.
Der Mann schrie fürchterlich und richtete ein Gewehr auf den Wolf. Die Langeweile lebt, dachte Dmitri grimmig und sprang den Irren an, weil der ihm keine Wahl ließ. Noch ehe der Mensch einen Schuß abgeben konnte, hatte Dmitri ihm beide Hände abgebissen. Der Mensch brüllte, als lachte er, fuchtelte mit den sprudelnden Stümpfen, dann stillten Stoffe, die in Dmitris Speichel lebten, sowohl die Blutung wie den Schmerz. Der Wolf saß auf dem Brustkorb des Mannes, um ihm Gelegenheit zu geben, in Dmitris Augen die höhere Vernunft zu erkennen, die Leute wie er immer noch nicht wahrhaben wollten. Zu ihrem eigenen Schutz vielleicht, dachte der Wolf: Sie müssen das, was wir sind, ärger fürchten als den Tod, sonst verstehen sie bald nicht mehr, warum so viele von ihnen gestorben sind, im Krieg um die Befreiung.
Der Mann war furchtbar dreckig, hatte einen kalkweißen Bart mit struppigen Pfefferfäden drin und etwas altem Eigelb. Jetzt hörte er auf zu weinen und zu schreien, fing aber dafür an, wirklich zu lachen, in einem Tonfall, der verriet, daß er sich für etwas ganz Besonderes, unwiederholbar Wahnsinniges hielt.
Seine Gesichtsmuskeln zuckten, es sah ganz heillos aus. Jetzt brabbelte er Worte, die an sämtlichen Bedeutungen abrutschten, die sie hätten haben können. Seine Atmung wurde flach, er schnappte nach Luft und erwischte auch die nicht. Wie er ihn sabbern sah und mit den Augen rollen, wie er spürte, daß der Besiegte sich aufbäumen wollte, wie sie das immer taten, dachte Dmitri: Wir hätten sie einfach entwaffnen sollen und auf entlegene Inseln verschiffen; da hätten sie sich gegenseitig aufgefressen.
Es dauerte noch lang.
Am Ende begann Dmitri, sprechenden Dampf zu schnauben, pherinfonierte, primitive Bilderspiele mit arithmetischen Reihen, auf das primitive Zentralnervensystem des Menschen zugeschnitten: beruhigende Sinnestäuschungen.
Das endlich brachte den von verebbender Raserei Geschüttelten zur Ruhe.
Der Mann sackte nach hinten, bis er wie ein Toter auf dem Rücken lag. Atmete aber noch ein. Aus. Dann fing er leise an zu sprechen, verständlicher jetzt:»Heult… heult… o ihr seid… all… von Stein… Hätt' ich eu'r… Aug' und… Zunge nur, mein… Jammer sprengte… des… Himmels…«
Dmitri hatte genug gehört.
Er biß dem armen Idioten die Kehle durch und spuckte, was er zwischen seinen Zähnen aus dem Menschenhals herausgerissen hatte, angewidert in den Schnee.
Die schwarze Galle vergiftete seinen Speichel; seine Flanken pulsten, so zornig war er, weil er sich mit den brechenden Augen des Mannes sah: ein Ungeheuer.
Was denn?
Sie fressen Dreck und halten sich verborgen an den unzugänglichsten Orten, sie graben sich ein wie die spritzenden Würmer und denken immer noch, wir Gente wären das Abscheuliche, die Niedrigkeit, und wüßten nichts von Shakespeare, von Symphonien, von der milanesischen Kathedrale, von den pindarischen Oden, dem ganzen alten Geraffel, und wenn sie zugeben müssen, daß wir davon doch wissen, dann reden sie sich ein, wir wüßten's zwar, aber verstünden's nicht. Die Gente werden das nie ändern.
Diese Leute wollen nicht mit uns leben; sie bilden sich ein, sie dürften entscheiden, wer die Erde wie bewohnt.
Blubbern und Gurgeln aus dem Rachen des Sterbenden, dann nichts mehr. Auf diesem Nichts blieb Dmitri Stepanowitsch ein Weilchen hocken und dachte an die Stadt, in die er zurückwollte.
Der letzte Blick des Menschen sah auf Dmitris Schnauze.
Ja: Das ist alles, was er sieht, das bin ich, ein Biest, das in der Dunkelheit hockt und sich beschmutzt, wenn er das rote Licht seines zerstörten Verstandes auf es richtet.
Als der Mann, der ihn hatte erschießen wollen, nicht mehr atmete, ging Dmitri fort, auf einen Felsvorsprung, und blickte hinab in einen zusammenfließenden Nebelsee zwischen den spitzen finsteren Bäumen.
Überrascht begriff er, daß er nicht mehr an den Löwen glaubte.
Er liebt uns? Er will, daß wir glücklich sind und bei ihm auf ewig wohnen? Er hat einen Plan? Ich denke, nichts davon ist wahr.
Und doch liebe ich ihn, weil er sich das alles für uns einredet.
Dmitri wußte nun, daß er sich nicht länger genötigt fühlte, dem Löwen um irgendeiner Wahrheit willen zu dienen, die größer war als Menschen, Gente oder die neuen Götter im Regenwald.
Von jetzt an würde der Wolf, wenn er weiterhin tat, was der Löwe von ihm verlangte, das gänzlich aus eigenem, befreitem Willen tun.
Die Freude über diesen Gedanken kämpfte eine Weile in Dmitris Herz mit der Trauer darüber, daß die Welt auch mit all der Macht, die der Löwe hatte, offenbar nicht zu bessern war.
Dann gebot er beiden, der Freude wie der Trauer, zu schweigen.
Sie gehorchten.
4. Wer wen gezeugt hat
Im Ruf des Löwen hatte Schrecken seinen festen Platz.
Cyrus Iemelian Adrian Vinicius Golden, sagten die Gente, das ist ein Name, der Taten, Abenteuer und Zeichen meint, die man nicht jedem laut erzählen darf.
Stimmt, was sie heimlich sagen, in den drei Städten? Hat er einen Gott zerfleischt, hat er die Oberfläche der Sonne betreten, ohne zu verbrennen, hat er Kinder mit seinen Kindern gezeugt?
Es gibt, seit überhaupt wer Sprache hat, immer Gerüchte, die von alleine tödlich sind; da braucht es keinen, der sie übelnimmt.

«Lebt, als ob ihr auf einer neuen Erde lebtet, die einen neuen Himmel vorhat«: Seine alte Weisung sollte der Löwe selbst, hieß es, bis zum Exzeß befolgt haben.
«Er ist«, behauptete eine Technikerin, die seit anderthalb Jahrhunderten unter Izquierda diente,»in den ersten Jahren nach der Befreiung mehrmals wöchentlich von einer Tierart zur andern übergetreten.«
Wie lange der König seit damals ununterbrochen Löwe geblieben war, wußte niemand (einige Kalender und Chroniken fehlten). Der lange Name, unter dem man ihn jetzt kannte, stellte ein Verzeichnis der Stufen seines Wegs zur Macht dar; die Auflistung der Namen mehrerer verschiedener Löwen, die er gewesen war. Der Pakt, das juristische, politische und biotische Einverständnis der ersten Fürsten der Gente, die diese Namen getragen hatten, war seine Geburtsurkunde (es mochte dabei ganz ähnlich zugegangen sein wie bei dem Vorgang, der aus Katahomenduende und Katahomencopiava die neue Ungeheuerlichkeit Katahomenleandraleal hatte erwachen lassen).
«Cyrus«: So hieß ein Buch, das wußte, wie eine große gelbe Katze in einem jungen (mit einem Wort jener Zeit» zentralasiatischen«) Staat der frühen Befreiung, umzingelt von grünen und feuerfarbenen Dschungeln, dafür gesorgt hatte, daß gewisse Mißstände des Justiz- und Exekutivzweiges der neuen Ordnung zügig abgestellt wurden. Bis er sich der Sache angenommen hatte, gab es für Dachse und Kühe, die dort damals etwa ein Fehlverhalten von Tigern oder Leoparden beobachtet hatten und es höheren Stellen melden wollten, keinerlei Schutz vor Blutrache. Man bezichtigte sie vielmehr, wenn sie Pech hatten, in Fehmeverfahren der Clans der Angezeigten, die geheim waren und ohne Möglichkeit der Revision, nicht selten der Kollaboration mit den noch alles andere als geschlagenen Menschen und warf sie dann von Klippen ins Meer.
Читать дальше