Ja, sagte Karl, das ist Diego.
Eigentlich hatte er sagen wollen: Setz dich hinein in den Sirenenstuhl, schmieg deine Arme in diese ungeheuer sanft geschwungenen Lehnen, Sirene, du. Aber er stand nur und schaute und nickte. Er hätte sagen sollen: Zu hoch der Preis. Auch das sagte er nicht.
Das ist Diego, sagte sie, komm.
Gundi nahm Karl bei der Hand und führte ihn hinunter. Das schaffte sie. Hinaus fand er allein. Aber sie rief ihn noch einmal. Diesmal mit einer ganz anderen, kein bißchen gefühlsbelegten Stimme. Und sagte: Du mußt wissen, bitte, vergiß es nie, ich bin leider von allen Menschen der glücklichste. Jetzt verschwand sie wirklich. Wie auf dem Bildschirm, dachte Karl. Sie tritt auf, agiert, tritt ab. Sie ist Fernsehen durch und durch. Zu Gast bei Gundi. Gib zu, das wär’s. Gib’s nicht zu.
Karl und Diego sind immer wieder, wenn sie zusammen eine Gundi-Sendung angeschaut haben, bei der Vermutung angekommen, Gundi sei so erfolgreich, weil sie zeigen kann, wie sie ihren Erfolg genießt. Sie bestaunt den Erfolg und genießt ihn. Ohne Mache. Karl sagt dann: Sie schämt sich nicht, das ist es. Und Diego: Ja, sie ist göttlich unverschämt.
Schon wie sie ihre Sendung anfängt und aufhört, ist längst zum Ritual geworden. Das Studio im Arbeitslicht, also eher trüb und düster als hell. Kameramänner und — frauen stehen an ihren Kameras, sie werden von der gläsernen Regiekanzel, die man ganz hinten oben gerade noch wahrnimmt, auf ihre Positionen dirigiert. Eben das ruhige Gewusel, bevor man auf Sendung ist. Zu Gast bei Gundi kommt immer live. Gundi hat von Anfang an das volle Risiko der Live-Sendung verlangt. Dann setzt Musik ein. Die kommt einem bekannt vor. Dann doch wieder nicht. Titel laufen über den Schirm, und in die Szene schiebt sich von links nach rechts ein schwarzes Schiff. Deutlich eine Attrappe. Aber doch ein Schiff. Und an der richtigen Stelle, aber viel größer als bei jedem wirklichen Schiff, leuchtet der Name auf: Inutile Precauzione. Das Schiff ist so gewaltig, daß es die Szene füllt, obwohl es höchstens mit seinem vorderen Viertel hereinragt. Die Musik ist inzwischen sowohl groß feierlich wie unmißverständlich schräg. Auf einer schwarzen Treppe, deren Stufen mit einem schwarzen Teppich belegt sind, kommt Gundi herab. Da die schwarze Treppe vor der schwarzen Schiffswand im unaufmerksamen Bühnenlicht so gut wie unsichtbar bleibt, geht Gundi wie durch die Luft. Ihr schwarzseidener Mantel tut ein übriges. Aber er öffnet sich bei jedem Schritt und läßt Gundis Wesensfarbe Türkis sehen. Sobald sie den Studioboden erreicht, zieht sich das Schiff nach links hinaus, verschwindet. Die Kameramänner und — frauen begrüßt Gundi wie alte Bekannte. Mit ihnen zusammen schaut sie jetzt dem hinausziehenden Schiff nach, mit ihnen zusammen hört sie der Musik zu. Und lacht. Und alle um sie herum lachen mit. Dann die erste Großaufnahme. Und Gundi sagt jedesmal einen Text, der, je nach ihrer Stimmung, wehmütig gefühlvoll oder fröhlich frech mitteilt: Diese Musik ist, was ich gern wäre. Was ich zu sein versuche. Wer uns zum ersten Mal zuschaut, soll nicht lang herumrätseln. Die Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, in einer Streichquartett-Version von Hindemith. Hindemith gab seiner Version den Titel: Die Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um sieben vom Blatt spielt. Und sagt dazu: Mich wirft diese Art von Wagner-Verehrung einfach immer wieder um. Nebenbei streichelt sie die Kameras wie liebe Tiere, nach denen sie sich seit der letzten Sendung gesehnt hat.
Sie duldet kein Publikum im Studio. Sie will mit ihrem jeweiligen Gast und mit dem Fernsehzuschauer allein sein. Und sie will immer nur einen einzigen Gast. Daß da mehrere säßen und einer nach dem anderen käme dran wie beim Friseur oder beim Zahnarzt, ist bei Gundi unvorstellbar. Sie macht auch immer wieder deutlich, daß sie nur für einen einzigen Zuschauer, eine einzige Zuschauerin agiert. Und gibt zu, daß sie sich wohl fühlt zwischen den Kameras und in dieser Szene. Aber auch wenn sie sich einmal gar nicht wohl fühlt, sagt sie das.
Dann geht sie zu ihrem Salon, der mehr als die Hälfte des Studios beansprucht. Zwei hüfthohe Vasen markieren den Eingang zum Salon. Aus jeder Vase ragen sieben weiße Lilien. Links und rechts davon sind Kraniche aus Porzellan aufgereiht, fast eine Art Zaun. Sie sind nur halb so hoch wie die Vasen. Zwischen den Vasen wartet der Butler, Mr. Sheshadri. Er wird von Gundi freundschaftlich begrüßt. Er nimmt ihr den schwarzseidenen Reisemantel ab. Von diesem Augenblick an erlischt das Arbeitslicht, keine Kameras mehr, keine Kabel, nur noch der Salon. Der schimmert. Allmählich wird einzelnes durch das Licht gewissermaßen geboren. Gundi erlebt die Geburt der Salonschönheiten mit Andacht. Und mit Zärtlichkeit. Das sind Gesten und Bewegungen, die im Augenblick entstehen. Oder eben nicht. Und wenn nicht, dann kann es sein, daß sie gleich auf das alles beherrschende Sofa zugeht und sich aufs champagnerfarbene Velours fallen läßt, nie in die Mitte, immer in die linke Hälfte, vor das linke der beiden großen rechteckigen Kissen und in Reichweite der Polsterrolle auf ihrer Seite. Alles, was weich ist, schimmert in goldenster Champagnertönung. Die Sofaschale ist aus Palisander, gerundete Ecken, aber auf dem dunklen Holz läuft ein vergoldetes Bronzeband. Egal, in welcher Stimmung Gundi ist oder welche Stimmung sie ausdrücken will, sie landet nie auf dem Sofa, ohne es mit dem Namen seines Erschaffers zu grüßen. Als wäre der selber gegenwärtig, sagt sie: Guten Abend, Jacques-Emile Ruhlmann. Je nach Laune folgt: Ich bin so froh, endlich wieder auf Ihrem paradiesischen Meisterwerk Platz nehmen zu dürfen. Oder: Heute ist dieses Sofa Asyl. Zuletzt gehen die zwei Stehlampen an: dunkle, sich verjüngende Holzsäulen, die plissierte helle Schirme tragen. Und hinter und über allem schimmert in jeden Himmel das Chryslerbuilding aus New York. Es sieht aber nicht aus wie von außen beleuchtet, sondern schimmert von innen heraus. Und das immer mehr.
Außer der Chryslerbuilding-Magie ist alles, was man jetzt sieht, echt. Darauf besteht Gundi. Davon lebt sie. Das erlebt man als Zuschauer, wenn man sieht, wie sie umgeht mit dem, was sie ihre wunderbaren Dinge nennt.
Der Zuschauer sieht sie in der linken, den Gast in der rechten Ecke. Der Gast wird von Mr. Sheshadri hereingeführt, Gundi steht auf, der Butler stellt den Gast vor, Gundi zeigt sich informiert. Auf Gundis Seite endet das Sofa vor einem Gauguin-Bild: Kopf einer Frau auf Tahiti. Auf der anderen Seite vor der Meditazione del mattino von Giorgio de Chirico. Dazwischen ein Relief, in Elfenbein, vor schwarzem Hintergrund fünf Figuren, sitzend Paris, hinter ihm Merkur, auf die beiden zu kommen Venus, Juno und Minerva. Paris hält Venus den Apfel hin. Das Urteil des Paris also. Manchmal fragt Gundi einen Gast unvermittelt: Wie finden Sie Gauguins Frau, Chiricos Meditation oder die drei blanken Elfenbeinschönen vor dem sitzenden Paris? So fragt sie erst, wenn durch den Gesprächsverlauf erbracht ist, daß man sich nicht zu bewähren hat, daß man sich nicht blamieren kann, daß man aber, indem man in diesem Augenblick sagt, wie es einem zumute ist, etwas über sich erfährt. Sie selber sitzt meistens so, daß sie Venus oder Juno jeder Zeit streicheln kann. Dem Gast sagt sie, dieses schönste Elfenbein aus dem frühen 17. Jahrhundert habe sie gewählt, weil fraglose Schönheit ihr Leben steigere wie nichts sonst. Sie sei nackt ein anderer Mensch, sagt sie. Wie geht es Ihnen? So führt sie den Gast, ob Mann oder Frau, aus seiner Kleiderbiographie heraus ins Freie. Beziehungsweise in die Geborgenheit ihres Salons. Der Gast erfährt: Die zwei hüfthohen Vasen sind von Michael Powolny, mit dem ist sie trotz des gleichen Namens nicht verwandt. Die links und rechts streng aufrechten weißen Kraniche auf ihren türkis schimmernden Porzellanfelsen liefern dem Salon eine Art Schönheitszaun. Sie kommen aus dem China der Qing-Dynastie, auch aus dem 17. Jahrhundert. Und, sagt Gundi zu ihrem Gast, dort waren sie die heiligsten Vögel überhaupt. Als höhere Abschirmung, sagt sie, empfinde sie ihren Kranichzaun. Aber es ist durchaus möglich, daß sie plötzlich zur Kamera, also zum Fernsehzuschauer sagt: Wenn ich jetzt die Briefe nicht hätte, die Sie mir geschrieben haben, wären all diese wunderbaren Dinge in meinem Salon nicht imstande, mich zu beleben. Und liest einen oder zwei oder drei Briefe vor. In Großaufnahme. Wenn sie diese Briefe vorliest, werden es Liebesbriefe, und Gundi sagt, sie sei die glücklichste Frau der Welt, weil ihr solche Briefe geschrieben werden. Aber solche Briefe werden es erst durch ihr Vorlesen. Sie kniet, wenn ein Brief es ihr souffliert, auf dem Sofa, kippt zur Seite, kuschelt sich klein in die Ecke, sie tut immer, was der Brief mit ihr macht. Sie führt diese Briefe auf. Sie feiert sie. Das regt immer mehr Leute zu immer heftigeren Briefen an. Gundi gesteht, daß sie ohne diese Briefe gar nicht mehr leben könnte. Wenn ich diese Briefe nicht mehr bekomme, rauch ich wieder, hat sie einmal gesagt.
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