Sie hatte sich ja das Rauchen öffentlich abgewöhnt. Alle Rückfälle gestanden. Den ganzen Leidenskampf vorgeführt. Das war überhaupt ihr Durchbruch. Die Anteilnahme der Zuschauer wuchs lawinenartig. Tausende und Abertausende, die sich auch vom Rauchen befreien wollten, schlossen sich an, machten mit, meldeten ihre Siege und ihre Niederlagen. Gundi selber kämpfte sich von vierzig auf fünfunddreißig, auf dreißig, und ab zwanzig in Zweierschritten herunter, bis sie die Null erreicht hatte und — das war spannend genug — die Null hielt und wieder fiel und sich wieder erhob, bis sie einhundert Tage rein durchgestanden und damit einen neuen Standard der Selbstüberwindung geschaffen hatte. Und das führte die Frau vor, die Selbstbeherrschung verachtete, die das Evangelium der Haltlosigkeit verkündete und vorlebte und ihren mehr oder weniger leidenden Gästen als einzige Heilchance empfahl. Es dürfe nichts geben, an das man sich gebunden fühlen müsse. Weder das Rauchen noch das Nichtrauchen. Das Fernsehen mußte einen Arbeitsstab einrichten und eine Bewertungsmethode entwickeln: Wer weniger als dreißig rauchte, rangierte im Achtelfinale, weniger als zwanzig im Viertelfinale, mit zehn kam man ins Halbfinale, ab null war man im Finale, aber erst nach einhundert Tagen war man Champion oder Championesse. Das waren mediengerechte Vorgänge. Das sogenannte Keppeletui mit seinem transluziden Emailledekor in Königsblau und den schmalen Goldstreifen und der honiggoldene Aschenbecher blieben auf ihrem Tisch als Schönheitsdenkmal für ihre Raucherzeit. Sie hatte diesen Aschenbecher aus dem Jahr 1924 und dieses Zigarettenetui wie alle ihre wunderbaren Dinge liebevoll vorgestellt und hingebungsvoll benutzt. Man muß nicht dagegen sein, geraucht zu haben. Vor allem, wenn man nicht mehr raucht. Was transluzid sei, habe sie zwar gesehen, aber sie habe nicht gewußt, daß das, was sie sah, transluzid genannt werde. Ihr Liebster habe es ihr erklärt. Sie lasse sich von ihrem Liebsten gern etwas erklären, weil sie dabei erlebe, wie gut ihm das tue, wenn er ihr etwas erklären könne. Dazu komme allerdings, daß außer Gott keiner so allwissend sei wie ihr Liebster. Sie frage ihn eins, und er erkläre ihr alles. Wer, wenn nicht ihr Liebster, hätte ihr sagen können, daß das transluzide Keppeletui geschaffen worden ist von Henrik Emanuel Wigström, und zwar geschaffen für Fabergé, das Goldschmiedgenie der Romanows, und daß eben dieses Etui, das da vor ihr auf dem Tisch liegt, vom englischen König Edward VII. seiner Geliebten Alice Keppel geschenkt worden ist, und wer war denn diese Alice Keppel, fragt sie dann natürlich ihren Liebsten, und hört, das war die Großmutter von Camilla Parker Bowles, und jetzt kann sie wieder mithalten, Camilla Parker Bowles, zuerst Jahr für Jahr unbeirrbare Geliebte von Prinz Charles und schließlich seine Gattin, also Nachfolgerin der märchenreifen Diana.
Das schlenkert sie allen ihren Zuschauern und speziell Barbara Steinbrech hin, ihrem heutigen Gast. Die hatte vorher bis zum Stimmversagen hervorgebracht, daß sie lieber ihre Kinder verliere als ihren Geliebten, obwohl sie doch ohne ihre Kinder überhaupt nicht leben könne, und beide Unmöglichkeiten habe sie durch und durch erfahren, also habe sie erfahren, daß sie nicht mehr leben könne. Und Gundi, nach ihrem schwebend leichten Bildungsschlenker zu Transluzid und Edward-Alice-Charles-Camilla, holt jetzt aus: Weg mit der verhinderungssüchtigen Wirklichkeit, in der so gut wie nichts möglich ist. Vor allem nichts Schönes. Schluß mit der Vorherrschaft des Wirklichkeitsprinzips. Wenigstens hier, bei Gundi, mit Gundi, durch Gundi, um Gundi herum. Alles ist möglich. Wir müssen es nur zulassen. Und griff nach ihrem Aschenbecher, fingerte aus dem transluzid schimmernden Keppeletui eine Zigarette, zündete ein zehn Zentimeter langes Zündholz an und sagte: Frau Steinbrech, mit dieser Heiligsprechung der Unmöglichkeit zwingen Sie mich dazu, wieder zu rauchen. Wenn etwas unmöglich ist, bleibt nur noch das Rauchen. Frau Steinbrech stieß einen Schreckschrei aus, fiel ihr in den Arm beziehungsweise blies das Zündholz aus und sagte Gundi etwas ins Ohr. Gundi zerbrach die Zigarette, streichelte Frau Steinbrech ausgiebig. Dann sagte sie: Irgendwo habe ich von Karl Marx den Satz gelesen: In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen. Ist das nicht ein wunderbarer Satz, rief sie dann. Barbara Steinbrech, sagt Ihnen der Satz etwas? Und Frau Steinbrech zögerte, kaute auf dem Wort kommunistisch herum. Lassen Sie’s einfach weg, sagte Gundi. Kommunistisch, das war, als Marx es benutzte, ein blühendes, noch ganz unausgeschöpftes, ein reines Hoffnungswort für einen schönen Zustand. Sagen Sie einfach: In der richtigen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen. Das ist genau so schöne, unwirkliche Zukunftsmusik, wir haben so wenig eine richtige Gesellschaft, wie es je eine kommunistische Gesellschaft gegeben hat oder hat geben können. Moment. Und sie kramte in ihrem Täschchen, das sie selber ihr verflixtes Täschchen nennt und das hauptsächlich aus dunklem Leder und Atlas und Bronze und Lapislazuli besteht und verziert ist mit mancherlei Getier, holte aus dem goldschimmernden Täschcheninneren einen Zettel heraus und sagte: Erst gestern habe ich noch ein paar Marx-Wörter gefunden, die spüren lassen, was für eine Gesellschaft ihm vorschwebte, hören Sie: … heute dies, morgen jenes zu tun, morgen zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe; ohne je Jäger, Fischer oder Kritiker zu werden. Und was heißt das für Barbara Steinbrech, fragte sie dann. Und die fuhr im Gundi-Ton fort: … ohne je Geliebte oder Mutter zu werden. Bravo, sagte Gundi, brava, müßte ich zu Ihnen sagen. Und wissen Sie was, sagte sie, während sie ihren Zettel sorgfältig ins Täschchen zurücksteckte, Sie sind in den letzten Minuten, seit wir von einer Gesellschaft ohne Rollenzwänge sprechen, von Sekunde zu Sekunde schöner geworden. Überzeugen Sie sich. Herr Sheshadri, bitte. Der Butler schob den immer verfügbaren Spiegel auf Rädern vor Frau Steinbrech hin. Sie sind eine Frau, sagte Gundi, die in diesem Spiegel vollkommen zur Geltung kommt, aber der Spiegel durch Sie auch. Venedig, aus meinem geliebten 17. Jahrhundert, fühlen Sie mal diesen dunklen Rahmen, belegt mit Gold und Perlmutt. Und der Spiegel war noch nie so schön wie in diesem Augenblick, weil Sie in ihn hineinschauen, weil er Sie spiegeln, Sie rahmen darf. Wenn er mir gehörte, würde ich ihn Ihnen schenken, daß sie in ihm immerzu sich selber fänden, Barbara Steinbrech. Weil wir keine Gesellschaft sind, die ein Recht hat, uns Rollen zu verpassen, müssen wir uns aus allen Rollen wegstehlen und so weiter. Einverstanden? Barbara Steinbrech sagte: Im Augenblick ganz und gar. Und weil Sie im Augenblick einverstanden sind mit sich, sind Sie schön, sagte Gundi. Im Augenblick macht die Mutter der Geliebten keinen Vorwurf und die Geliebte der Mutter auch nicht. Aber, sagte Barbara Steinbrech, sich Vorwürfe zu machen bringt auch etwas. Und Gundi sofort: Das Schlimmste sei, wenn man sich nichts mehr übelnehme. Wenn man gesiegt hat in sich selbst. Herr ist über sich selbst. Aber dann ahnt man, über wen man da Herr geworden ist. Der möchte man lieber nicht sein. Also doch gegen sich sein, sagte Frau Steinbrech. Ja, rief Gundi, um sich selbst kennenzulernen. Dann tue man, bitte, das, was einen schöner mache. Und das seien nicht die das Gesicht zerfurchenden Vorwürfe. Jeder habe in sich eine Schönheit, die er erlösen müsse, befreien. Durch nichts als Einverstandensein mit sich selbst.
Gundi hat, glaubt sie, etwas entdeckt, was sie nicht Entdeckung, sondern Erfahrung nennt. Sie hat erfahren, sagt sie und bringt es zum Ausdruck, daß wir haltlos sind. Wir alle. Weil wir keine Gesellschaft sind. Geschwollen ausgedrückt, sagt sie, keine Kultur mehr sind und noch keine Gesellschaft, sondern ein Gemenge von Isolationen.
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