Als sich Graf Josef mit dem zu ihm gehörenden Gestenaufwand verabschiedet hatte, sah sich Joni belustigt um. Karl distanzierte sich aber nicht von diesem zwischen Orange, Gelb und Braun spielenden Hotelbarock. All die Quasten, Schnüre, Troddeln, die Vorhanglasten, die Appliquen und die vom edlen Stilwillen verkrümmten Stuhl- und Tischlinien. Karl liebte das Nachgemachte. Wie es aus dem Wohnteil in den Schlafteil hinübergeht, das macht das Bett zur Bühne und das Ganze zum Theater.
Karl sagte, sie passe gut in diese Suite.
Das könnte, sagte sie, eine Beleidigung sein.
Du so echt, das so nachgemacht, das knistert, sagte er.
Routinier, sagte sie.
Anfänger, sagte er.
Sie packte aus, hängte mehrere Kleidungen in den Schrank, ging ins Klo, streifte, was nötig war, hinunter, setzte sich und pinkelte laut. Dann kam sie zu ihm an die Fensterfront, stellte sich neben ihn, lehnte ein bißchen den Kopf herüber und sagte: Schön. Das konnte nur heißen, daß sie den heftigen Regenguß mochte, weil er und sie zuschauten.
Was du jetzt nicht siehst, ist der See, sagte er.
Zum Glück hatte er sich umgezogen, als sie noch nicht zuschauen konnte. Daß er ihr beim Umkleiden zuschaute, schien sie zu genießen. Er betonte sein Zuschauen. Sie sollte bemerken, wie gern er ihr zuschaute. Dann war sie so weit. In ernstem Ochsenblutrot. Ein für ihre Verhältnisse legerer Kragen. Der Mondstein verschwand. Das, worauf es diesmal ankam, war der breite schwarze Lackgürtel, der lose auf ihren Hüften saß und nichts hielt als sich selbst. Das dunkle Rot, der glatte, feste Stoff, der Gürtel und auf den Schultern zwei spielerische Schulterstücke machten aus Joni eine Offizierin der schönsten Armee der Welt.
Sie saßen dann so, daß sie den Ludwig-Spruch lesen konnten, den Joni gestern auswendig gewußt hatte. Sie sagte ihn noch einmal, ohne hinzuschauen:
Das Glück ist wirklich, wo ich es empfinde.
Im Denken findt der Mensch des Wissens Leere.
Um glücklich seyn zu können, muß er fühlen.
Karl fragte: Könnte man das so sagen, daß hörbar wird, seyn steht da mit Ypsilon?
Wie soll ich das machen, fragte Joni.
Daran denken, sagte Karl.
Du Resischör, du, sagte sie.
Sie hatte Benedikt Loibl imitiert, weil der schon dastand und Brunnenkresserahmsuppe empfahl, Lammgigot aus dem Ofen an Thymianjus, dazu Rahmpolenta und Ratatouille. Zum Trinken seinen besten Zweigelt. Zum Lammgigot sei der Pflicht.
Durch nichts verriet er, daß Joni Jetter und Karl von Kahn am Abend zuvor auch schon dagewesen waren. Allenfalls, wie sehr er den Zweigelt empfahl, hätte als eine überaus zarte Kritik an der gestrigen Rioja-Orgie verstanden werden können.
Karl fragte Joni, ob man das so deuten könne.
Und sie: Überinterpretiert.
Er sagte: Etwas Friedlicheres als uns zwei kann es in der ganzen Welt nicht geben.
Und sie: Und etwas Unschuldigeres auch nicht.
Ich gestehe, sagte er, …
Bitte nicht, sagte sie.
Du hast recht, sagte er.
Was tust du, wenn du arbeitest, fragte sie.
Finanzdienstleister, sagte er.
Mein Großonkel war Fahrdienstleiter, sagte sie, in Ennepetal.
Da bin ich, sagte er, als ich in Bonn studierte, immer ausgestiegen zum Wandern.
Warum in Ennepetal, fragte sie.
Da habe er, sagte er, zum ersten Mal das Gefühl gehabt, im historischen Germanien zu sein. Und mußte noch dazusagen, er sei kein Leiter, sondern ein Leister.
Was tust du, wenn du leistest, fragte sie.
Weißt du noch, was du im Sommer 1992 gemacht hast, fragte er.
Leider, sagte Joni. Der Sommer fing an mit dem Abschlußball. Sie in Angelas eisgrünem Missoni-Jersey. Angela, ihre ältere Schwester, Cutterin, verdiente schon richtiges Geld. Angelas Missoni-Jersey habe sie noch dicker gemacht, als sie damals gewesen sei.
Du und dick, sagte Karl.
Und sie: So groß wie breit. Marga und Ulla tanzten zwei selbsterdachte Nummern, Strandleben und Ganz alte Männer . Beide blond, schön, locker, total sexy. Die wurden nachher natürlich geholt und geholt. Bei ihr kam höchstens mal schnell ein Dürrer oder ein schüchterner Zitterer vorbei. Sie hatte mitgeprobt für die Tanznummern. Lief dann nicht. Das war der Abschlußball, dann das Leben. Ging grad so weiter. Gleich der erste hatte, ohne ihr etwas zu sagen, nach vier Wochen der reinen Verliebtheit ihre Freundin auf dem Motorrad, und wenn die ihr, der Radfahrerin, begegneten, gab er Gas. Immerhin, hat sie gedacht, er hat ein schlechtes Gewissen. Sie also nächtelang: Warum-warum! Dann schleimt sich einer an, daß sie geglaubt hat, glauben mußte, es handle sich um Schicksal. Jungkomponist. Die Haare auf Beethoven gemacht. Überhaupt à la Beethoven. Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre jubelte der in der ersten Nacht in seiner ärmlichen Bude. Er werde über ihre Brüste ein Konzert für vier Saxophone und sechs Schlagzeuge schreiben, und sie werde sich mit ihm und mit ihren Brüsten vor dem Uraufführungspublikum verbeugen. Er rief, wenn sie bei ihm war, seine Mutter an und sagte: Mutti, endlich! Endlich bin ich angekommen. Bei ihr! Und ihr, Joni Jetter, werden alle seine Kompositionen gewidmet sein. Du wirst sie mögen, Mutti! Gute Nacht, liebste Mutti, je t’embrasse. Nach vier Monaten ein Brief: Mutti sei plötzlich krank geworden, Mutti brauche ihn jetzt, er wisse nicht, wann er, ob er überhaupt zurückkomme, je t’embrasse, Hector! Immer mit — c-. Sogar wenn er sich vorstellte, sagte er immer: Hector mit — c-.
Dann eben Uni, Ruhr-Uni. Vier Semester Geschichte und Englisch. Surrealistisches Kasperltheater. Im Mittelalter war der Mensch am freiesten, und was die Offiziere im Punischen Krieg für Hosen anhatten. Sie rennt, weil sie immer zu spät dran ist, in den falschen Seminarraum, statt bei Shakespeares Sonetten landet sie bei der Museumspädagogik, setzt sich, weil sie nicht zugeben will, daß sie sich getäuscht hat, in die letzte Reihe, der Museumspädagoge hat ihren Eintritt mit einer großen Geste gutgeheißen, redet weiter, kommt nachher auf sie zu, sie sagt immer noch nicht, daß sie hier falsch sei, alle anderen sind schon fort, sie kann, wenn sie will, in seine Sprechstunde kommen, er berät sie gern, sie geht hin, er berührt sie am Oberarm. Es war seine Stimme, nicht das, was er sagte. Durch ihre Ohren ist sie noch zugänglicher als durch ihre Augen. Das muß ein Konstruktionsfehler sein bei ihr, diese Zugänglichkeit durch die Ohren. Zwei Wochen später lag sie in seinem Bett. Sorgfältigster Beischlaf. Endlich Zukunft. Sobald die Frau zuverlässig aus dem Haus ist, ruft er sie. Zum Vögeln. Sie hat, so gut es ging, mitgevögelt. Immer mit Frikadellen und Mumm extra dry. So lange nichts, und jetzt diese Aufmerksamkeit! So willkommen hat sie sich noch nie fühlen dürfen. Jedesmal entdeckten sie aneinander etwas Neues. Sie konnte endlich reden. Dem gefielen ihre Rücksichtslosigkeiten. Angeblich habe ihn vor ihr noch keine Frau so zum Lachen gebracht. Er stellte immer einen Spiegel vors Regal, gerade groß genug, daß sie die entscheidenden Partien mitkriegten. Das mußte doch überhaupt nicht mehr aufhören. Echt, sie sah sich schon als Gattin. Natürlich unter aufklärerischer Flagge gesegelt. Beziehungsweise gevögelt. So dumm muß man sein können. In den Ferien gab es ihn nicht. Und nach den Ferien auch nicht mehr. Sie sah, welche er jetzt am Oberarm berührt hatte. Das sah man der an. Die Lehre: Es gibt immer eine Nachfolgerin.
Also abgehauen. Geflohen. Kotzunglücklich. Und nichts gelernt, womit auch nur eine Mark zu verdienen war. Zuerst im Etikette gejobbt, dann im Raus, Frühschicht sechs bis dreizehn, Nachtschicht siebzehn bis drei. Wird dann immer vier. Jetzt also Dostojewskij. Der muß gerochen haben, daß sie es jetzt düster brauchte, schwermütig, tragisch. Vater Finne, Mutter aus Sibirien. Der sagte: Mit mir nur ganz oder gar nicht. Aber ja, rief es in ihr, ihm entgegen, aber ja! Der kam auf sie zu, als wate er tief im Schnee, machte dicht vor ihr halt, zog etwas Pelziges aus der Tasche seines fast bis zu den Knien reichenden dunkelgrünen Kittels, hielt ihr das Pelzige hin und sagte: Diesen Nerzschal von meiner Großmutter kann niemand tragen außer Ihnen. Er habe Joni lange beobachtet, deshalb wisse er, nur sie kann den Großmutternerzschal tragen. Bühnenbildner mit Regieambition. Wenn er nachts redete, war er der Intendant oder würde es doch gleich werden. Sie sollte glücklich sein, daß er noch rechtzeitig gekommen sei, sie aus ihrer verpfuschten Kindheit und Jugend zu erlösen. Das gehe nur sexuell. Sie müsse ihre Identität in der Sexualität entdecken und entwickeln. Von da aus dann zur Schauspielkunst. Die Schauspielkunst sei nichts anderes als angewandte Sexualität. Zuerst aber die Zertrümmerung der katholischen Kleinbürgerin. Besonders die Kirche war ihm verhaßt. Was die sich herausnimmt, so ein schönes Mädchen bis ins Innerste zu verbiegen, bis zur Lebens- und Liebesunfähigkeit zu verkorksen.
Читать дальше