Sie ging ja auch, als er sie zum ersten Mal wahrnahm, als Siegerin vom Platz. Sie hatte mehr gegeben, als sie hatte. Das sah man. Ein rot verschwitztes Gesicht unter den kein bißchen zerzausten blonden Haaren. Auch ihr Gesicht war kein bißchen deformiert von der Anstrengung. Wahrscheinlich weil die alles beherrschenden, glanzvoll ausschwingenden Wimpern von Anstrengung nichts wußten.
Er saß so, daß sie auf dem Weg zur Dusche und in die Garderobe dicht an ihm vorbei mußte. Er sah sie an. Sein Mund ging auf. Wie willenlos. Es kam ihm offenbar darauf an, ihr zu demonstrieren, daß er sie jetzt anschaute, als gehe sie als Königin des Augenblicks im bunten Scheinwerferlicht langsam eine sehr bequeme Treppe herab, um sich einem nach Tausenden zählenden Publikum gnädigst zu nähern und sich dabei mit jedem Schritt noch unverschämter zu öffnen; bei jedem Schritt ein bißchen einknickend und so zu lächeln, als wisse sie genau, wie unwiderstehlich sie sei, und das finde sie ganz lustig. So etwa hat er ihr nachher ihre Wirkung auf ihn dargeboten. Beabsichtigt hatte er das nicht. Gespielt hatte er nichts. Er hatte sich nur nicht gewehrt. Er hatte sich einfach gehenlassen, wie es sonst nicht seine Art war. Und sie hätte blind sein müssen, wenn sie das nicht gesehen hätte. Als sie geduscht und angezogen zurückkam, sagte er so, daß es rundum gehört werden konnte: Könnten Sie mich auch einmal so besiegen?
Und sie: Ich spiele nicht gern gegen Männer.
Und er: Fünfzehn zu null.
Und sie: Sagen wir deuce.
Und er: Gehen wir.
Er war selber überrascht über die Festigkeit seines Tons. Eine Art Bestimmtheit, die er nicht verantworten mußte. Er tat, was er mußte. Er spürte, daß er ausdrückte, er könne nichts dafür. Es wurde nichts mehr gesprochen, bis sie bei ihrem Auto angekommen waren. Bevor sie einstieg, stellte er sich noch vor. Und sie sagte, sie sei Helen. Mehr sagte sie nicht. Diese Frau war verheiratet. Daß sie nur ihren Vornamen gesagt hatte, war eine Gefühlsleistung.
Er kam heim, Henriette übte. Flöte. Auf Henriette wirkte das Flötenspiel wie auf ihn das Geldvermehren. Sie drehte sich weg von ihren Noten, breitete ihre Arme aus und umarmte ihn, ohne die Flöte aus der Hand zu geben. Sie war selig. Wieder einmal. Telemann. Sie hätte am liebsten mit ihm getanzt. Ob sie ihm vorspielen dürfe. Von ihr aus könnte das Vereinskonzert morgen stattfinden. Weißt du … Und sie spielte. Wie sie gespielt hatte, als er einem Kunden zuliebe ein Vereinskonzert besuchen mußte und so saß, daß die Flötistin direkt vor ihm spielte. Ein Kleid, in grellen Farben, die Muster organisch, nicht geometrisch. Aber was ihn dieser Flötistin unterworfen hatte, war, daß ihre Oberschenkel durch eine schräg über das Kleid herablaufende Schärpe praktisch zusammengebunden waren. Die Flötistin bog sich in der Musik wie ein Baum im Sturm. Sie musizierte gegen die Oberschenkelfesselung. Dann die Veränderung ihres Mundes, sobald sie nicht spielte. Sofort schwoll ihr gerade noch übermäßig disziplinierter Mund in eine vorher nicht vorstellbare Fülle. Und wenn sie wieder dran war, nahm der Mund sich wieder unheimlich zusammen. Karl von Kahn war verloren. Henriette war Krankengymnastin in einer Naturheilpraxis, und sie war Flötistin. Er heiratete ein Märchen. Ihr war alles eins. Fanny wurde vom Geburtsaugenblick an aufgenommen in ihr wirklichkeitsresistentes Märchen. Die Scheidung ließ sie sich gefallen wie eine Fremdsprache. Ihre Zurückhaltung, ihr Staunen, ihr wirkliches oder gespieltes Unverständnis für das, was passierte, war, fand er, schlimmer als der Ehekrieg, den Helen und der Schlösserverwalter gegeneinander führten. Sieben schreckliche Monate lang. Elf Monate später heirateten Helen und er. Beide hatten am Hochzeitstag noch Scheidungswunden. Sie streichelte die seinen, er leckte die ihren. Das taten sie an der ligurischen Küste, im Wasser und auf dem Land und Tag und Nacht. Zwölf Jahre war das jetzt her, daß der Achtundfünfzigjährige die neununddreißigjährige Psycho-Tennisspielerin entdeckt hatte, die jeden Ball kriegte. Er hatte zum Glück die entscheidenden Sätze gesprochen, die ausschlaggebenden Anträge gestellt, bevor er wußte, daß sie wohlhabend war. Von Haus aus. Darauf hatte ihr Mann, der Schlösserverwalter, keinen Anspruch. Helens Vater hatte alles getan, gierigen Schwiegersöhnen zu wehren. Jetzt war der Vater tot. Und Helen, die jetzt, hatte sie gesagt, zum ersten Mal verliebt sei, ließ es nicht zu, daß ihre Konten, seine und ihre, nichts voneinander wüßten. Ihr Schlösserverwalter weinte eine Zeit lang. Dann fluchte er. Dann knirschte er mit den Zähnen und bewies ihr und sich selbst, daß sie nie seiner würdig gewesen sei. Helen sagte danach, in den Stunden dieser Auseinandersetzung habe sie immer daran gedacht, daß der Schlösserverwalter es trotz ihres Sträubens, trotz der erwiesenen physischen Unmöglichkeit nicht aufgegeben hatte, den Geschlechtsverkehr in ihrem Arsch praktizieren zu wollen. So drastisch redete die eher zarte, feine, flinke, nur ein bißchen lispelnde und eher reiche als nur wohlhabende Helen damals daher. Karl war begeistert. Er machte das sofort zum Thema. Seine Henriette hätte, wenn sie so etwas mitzuteilen gehabt hätte, sie hatte natürlich überhaupt nichts dergleichen mitzuteilen, einen Flor von Umschreibungen gehäkelt, nur um dieses Wort in einem solchen Zusammenhang nicht in den Mund nehmen zu müssen. Und er selber — aber das verschwieg er — konnte das schlichte Wort Helen gegenüber auch nicht gleich in den Mund nehmen. Daran war nun wirklich seine Mutter schuld, die, wenn sich die Erwähnung dieser Körpergegend gar nicht vermeiden ließ, immer vom Hintern oder gar vom Anus gesprochen hatte. Arsch kam nur im Fluch vor. Leck mich am Arsch. Wer das sagte, bewies durch die Erregung, mit der er den Fluch herausschleuderte, daß er momentan nicht zurechnungsfähig war.
Es gibt zwar keine Zufälle, aber es gibt Fügungen, deren Notwendigkeit sich schwer erschließt. Auf einem Club-Ball, den Karl versäumte, hatte Helen bei einer Tombola ein Gewinnlos gezogen. Der Gewinn, gestiftet von der Bayerischen Seen- und Schlösserverwaltung, war: Sie durfte wählen, welches Schloß sie, geführt von einem bedeutenden Kopf der Bayerischen Schlösserverwaltung, besuchen wollte. Sie wählte Neuschwanstein. Wurde geführt von Herrn Dr. Sebastian Miquel. Das war’s dann schon. Dem Schlösserverwalter gefiel das von Helens Vater erfundene und geleitete Sanatorium, in dem Leute, die nicht krank waren, noch gesünder werden konnten. Wielands Ruh genannt. Slogan: Wer es kennt, gehört dazu . Und findet hin. Irgendwo in Tutzing am Hang. Daß Helen sich nicht im geringsten aufgelegt fühlte, ihres Vaters Nachfolgerin zu werden, hatte dem Vater einen endgültigen Schmerz zugefügt. Bis zum Schluß hatte er gehofft, sie besinne sich. Auch der Schlösserverwalter wollte sie als Direktorin und wahrscheinlich sich als Direktor sehen. Lieber übernehme sie gleich ein Altersheim, als sich über die Wehwehchen dieser Klientel zu beugen. Der Vater war gestorben. Helen verkaufte. Verkaufte aber nicht alles. Das eingewachsene Gartenhäuschen samt kleinem Garten drumrum behielt sie. In einem Brennerei genannten Hinterraum des Häuschens zaubert sie jedes Jahr zweimal, nämlich am 21. Dezember und am 21. Juni, ein Getränk. Wielands Trunk . Helens Vater hat das Rezept von einer Reise aus Georgien mitgebracht, vielleicht auch noch weiterentwickelt. 10 Liter Rémy Martin, 3 Kilogramm Knoblauch, wieviel Pfund Wacholderbeeren, wieviel Pfund Honig, wieviel Pfund Kümmel, der deckt den Knoblauchgeruch zu, und was sonst noch reinkam, vor allem, wie der Knoblauch in der von Dr. Wieland selbst konstruierten Presse gepreßt und wie das Ganze dann gesotten und abgefüllt wurde, das blieb Helens gehütetes Vatererbe. Aber dem Sanatoriums-Besitzer sind jährlich mindestens 30 Flaschen Wielands Trunk vertraglich zugesagt. Für gutes Geld. Das Getränk ist, schon weil es nie genug davon gibt, heftig gefragt. Und daß Karl und Helen von allen Krankheiten gemieden werden, führen sie auf die zwei Gläschen Trunk zurück, die Helen jeden Morgen zum Frühstück einschenkt.
Читать дальше