(Alma ist immer wieder erstaunt, wie wenig Mühe es Richard zwischendurch bereitet, über allgemeine Dinge zu reden, während er gleichzeitig weder Monat noch Tag nennen könnte. Sie hat keine Erklärung, warum das so ist.)
— Aber wir werden trotzdem nicht darüber streiten, ob du’s besonders schlimm getroffen hast. Vielleicht sind das gar keine so schlechten Erfahrungen, schlecht schon, natürlich, aber hoffentlich nicht unnütz.
(Weisheiten, die zu keinen Weisheiten führen, die man trotzdem mit Gleichaltrigen wechselt, um einander zu beruhigen.)
— Ich wüßte nicht, wozu es gut sein sollte. Vom Kranksein wird man alt, und vom Altsein krank, und von beidem zusammen stirbt man. Am schlimmsten ist, daß man mich daheim und in der Schule nicht darauf vorbereitet hat. Aufs Sterben schon. Aber vor dem davor hat mich keiner gewarnt, obwohl das Sterben das wenigste sein dürfte.
(Es ist seit langem das erste Mal, daß er das Wort Sterben ohne Angst benutzt.)
— Ich hab es mir auch anders vorgestellt, bevor ich erwachsen war.
(Sie lacht, aber nur kurz, unsicher.)
— Sehr richtig, so ist es. Ich habe es mir auch anders vorgestellt.
(Sie denkt: Ich hätte mich gerne mal mit ihm über seine Jugend im Verhältnis zu meiner unterhalten. In Meidling führte ich ein fast ebenso freies Leben wie die Halbwüchsigen heute, jedenfalls im Vergleich zu ihm. In seiner oberklerikalen, reichen Familie hatte er ja so gut wie keine Spielräume.)
— Darf ich dich etwas fragen? sagt er.
— Was liegt dir auf der Seele?
(Sie beobachtet Richard, der dem Tabak seiner Zigarette beim Verglühen zusieht, als empfange er von dort seine augenblickliche Inspiration. Er redet, ohne aufzusehen:)
— Ich würde gerne wissen, wann das beginnt, daß man den Kopf nicht mehr rechts und nicht mehr links wenden kann. Beginnt das plötzlich, oder schlittert man da hinein, ohne es zu merken?
— Der Beginn ist schleichend, nehme ich an. Links geht es vielleicht noch bergauf, während es rechts schon bergab geht.
(Sie legt einen Moment lang ihre Hand auf seine und drückt sie. Botschaften, die von den Fingerspitzen ausstrahlen.)
— Es ist, sagt er, als hätte ein Magnet den Kompaß ruiniert. Es gibt doch diese Stellen im Ozean, an denen die Kompaßnadeln zu rotieren beginnen.
(Weshalb dann die Schiffe, an deren Kurs sich irgendwann niemand mehr erinnert, den Launen des Wetters überlassen bleiben. Aber das traut Alma sich nicht zu sagen. Wie sie auch nicht erwähnen will — obwohl es ihr in den Sinn kommt —, daß es einen Teil des atlantischen Ozeans gibt, den tropischen Teil, den die Spanier el Golfo de las Damas nannten, weil dort die Schiffahrt so leicht war, daß selbst die zartesten Hände das Steuer führen konnten. Gibt es das auch im Leben? Das müßte schön sein. Ein Damenmeer. Und wann wäre das bei Richard und ihr gewesen? Wo fing es an und wo hörte es auf? Und wie gestalteten sich die Übergänge? Abrupt oder mit einer langsam aufkommenden Brise? Sie versucht sich in die fraglichen Zeiten zurückzuversetzen. Sie schließt die Augen, und es tauchen Kindheitserinnerungen auf. Kindheit gilt nicht, überlegt sie, Kindheit ist ohnehin immer viel zu schnell bei der Hand, es müßte später gewesen sein. Müßte . Denn glücklich war sie auch später oft, nehmen wir nur, als Ingrid ihre erste Regel bekam. Aber unbeschwert?)
— Weißt du noch, sagt sie, wie vor dem Ersten Krieg im Sommer immer der Spritzwagen in die Gassen kam? Daran könntest du dich erinnern.
(Ein ganz gewöhnliches Ereignis: ein von zwei starken Pferden gezogenes riesiges Faß auf vier Rädern mit reichlich an der Hinterseite ausströmendem Wasser. Mit diesem Wasser wurde an heißen Sommertagen die staubige Straße genetzt. Der Spritzwagen war immer von einer Menge Buben begleitet, die sich die Hosen ganz hoch hinaufsteckten, um möglichst weit in den Strahl laufen zu können. Die Mädchen, wenn Mädchen überhaupt mitgingen, liefen ganz weit außen, damit nur die Füße naß wurden, denn sie durften die Röcke nicht hochheben. Eigentlich wäre Alma auch gerne mitgelaufen, aber sie wußte, daß das nur Gassenkinder tun, solche, deren Väter auf den Fingern pfeifen. Ihre Mutter, die oft für einen Augenblick aus dem Fenster schaute, hätte es bestimmt nicht gern gesehen, wenn ihre Tochter mit von der Partie gewesen wäre. Daran fand Alma damals noch nicht einmal etwas Besonderes.)
— Bei uns in Meidling im Bereich der Tivoligasse gab es viele Gassenkinder, für die war der Spritzwagen eine willkommene Abwechslung vom Diabolo und Tempelhupfen.
(Die Namen dieser Kinder, die Alma einmal wußte, sind vergessen. Ihre Vorstadtakzente haben sich abgeschliffen wie Steine in einem Gletscher. Das Knarren der längst verfaulten Fässer, das Wiehern der Pferde und der Nachhall der nackten Kinderfüße auf dem Boden geistern noch, jedes Geräusch isoliert in einem eigenen Gedanken, durch die allmählich austrocknenden Gehirne, Erinnerungsstaub, der sich zurück in die Substanz der Ereignisse setzt, weil weder Luft noch Zeit ihn allzulange tragen.)
— Bei uns in Hietzing gab es keine Gassenkinder, mutmaßt Richard.
(Peter war bestimmt so ein Gassenkind, ein Gassenläufer, wenn auch späteren Jahrgangs, denkt Alma.)
— Und auch Bloßfüßige bekommt man seit Jahren nicht mehr zu sehen.
(Er schaut kurz in sich hinein, schließt einen Moment lang erschöpft die Augen, fügt dann hinzu:)
— Wie sind wir jetzt eigentlich auf das gekommen?
(Ende des Gesprächs.)
Bereits ein Viertel der argentinischen Luftwaffe soll zerstört sein. Die eiserne Maggie treibt ihre Jungs zur Eile an. Von britischer Kommandoseite wird in Aussicht gestellt, daß die Rückeroberung der Inseln eher in Tagen als in Wochen beendet sein werde. Argentinien verkündet indessen die unmittelbar bevorstehende Niederlage der britischen Landetruppen. Bisher mehr als 450 Tote. Queen zittert um Prinz Andrew. Bundespräsident Kirchschläger beginnt seinen Staatsbesuch in Moskau. Kirchschläger in einem Interview gegenüber der» Prawda«: Zwischen Moskau und Wien herrscht Vertrauen. Der seit 1955 eingeschlagene Weg ist der richtige. Die Politik der Neutralität muß sich gerade in einer Zeit internationaler Spannungen bewähren. Mit Sprengstoff vollgepacktes Bombenauto zerreißt in Beirut 14 Menschen. Zitat des Tages: Heldentod ist der traurige Zufall eines Granatsplitters. Hat Karl Kraus im 1. Weltkrieg geschrieben. Neuer Sieg für Khomeinis Truppen. Saddam Hussein würde Kriegseintritt Ägyptens auf seiten des Iraks begrüßen. Personalwechsel im ZK. Juri Andropow wurde Montag zum ZK-Sekretär gewählt. In der mehrheitlich von Albanern bewohnten jugoslawischen Provinz ist es — wie erst jetzt bekannt wird — wieder zu Unruhen gekommen. Es wurde für eine eigene Republik Kosovo demonstriert. Bund schießt für Pensionen 18,4 Mrd. Schilling zu. Spitalskosten die große Belastung für 1982. Tragisches Ende der österreichischen Himalaja-Expedition am Cho-Oyo. Vorschau: Allgemein sonniges Wetter. Ab Wochenmitte im Westen und Südwesten lokale Gewitter. Winde zunächst aus Nordwest, später auf Südwest drehend. Höchsttemperaturen bis 21 Grad.
Nachdem sie sich beide richtig vollgegessen haben, zieht Richard sich in den Keller zurück, um sinn- und zwecklos die dort eingelagerten Vorräte mit neuen Etiketten zu versehen. Nebenher nascht er für gewöhnlich löffelweise Honig, aber das macht nichts (es heißt, Gelee Royal sei gut fürs Gehirn). Alma räumt das schmutzige Geschirr in den Spüler. Ehe sie die Arbeiten wiederaufnimmt, die sie am Vormittag nicht beenden konnte, spielt sie ein wenig auf der Querflöte. Sie ist gerade bei einem Stück von Bach, eine in F-dur gesetzte Triosonate, als Richard im Garten laut ihren Namen ruft.
Es klingt nicht nach schwerem Alarm. Alma glaubt die sonderbare Freude herauszuhören, die man empfindet, wenn es eine spannende und doch harmlose Neuigkeit mitzuteilen gibt. Sie unterbricht das Stück, wischt das Mundstück der Querflöte mit der Handinnenfläche ab, legt die Flöte auf den Steg des Notenständers und beugt sich aus dem offenstehenden Fenster.
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