— Sie ist nicht gut drauf, sagt Philipp.
— Das scheint mir auch so, sagt Peter.
Langsam vollzieht sich der Ablauf der Zeit. Die Sonne verglüht, die orangefarbene Scheibe sackt ab, tiefer und tiefer, verwaschen im Dunst, streift einen bewaldeten Hügel hinter dem Schloß von Spielfeld, gleich darauf, rötlicher, nachdem Peter den Wagen ein Stück nach vorne gesetzt hat, steht sie wieder frei am Himmel, in einer westlichen Landschaftskerbe. Die Unebenheiten in der Ferne glätten sich ein. Ein leichter Wind kommt auf. Dann ein Sonnenuntergang wie ein Gemetzel. Die bewaldeten Hügel scheinen der Sonne hinterher unter die glitschige Horizontlinie zu stürzen. Und der Himmel reißt sich drachengleich los und löst sich in der Höhe in nichts auf.
Philipp sitzt auf der Vortreppe, streichelt eine aus der Nachbarschaft zugelaufene Katze, mit der er sich angefreundet hat, reibt mit dem Zeigefinger der Rechten an ihren Wangenknochen und kratzt sich selbst den Bauch. Er sieht den Autos, die vorne die Einfahrt passieren, beim Fahren zu, den Frauen mit Kind, die nicht einmal den Kopf nach ihm drehen, obwohl der Anblick, der sich ihnen bieten würde, nicht schlechter wäre als andere Anblicke. Aber nein. Die Frauen und Kinder interessieren sich nicht für ihn. Kein Hahn kräht. Kein Hund bellt. Die Tauben gurren. Der Kaffee wird kalt. Das Erkalten des Kaffees und das langsame Verbrennen der Sonne sind in etwa dasselbe. Aber er schwadroniert ja nur und verduselt und verschreibt seine Notizbücher mit nichts als Andeutungen und Widersprüchen.
Selbst seine Geschicklichkeit im Fliegenfangen macht ihn nicht mehr froh. Er gibt die Fliegen der Katze zu fressen.
— Was soll ich denn jetzt deiner Meinung nach tun? fragt er die Katze. Sie miaut gnädig. Und mit einmal sieht auch Philipp sich an einem Punkt angelangt, an dem er nicht mehr bestreiten will, daß er etwas falsch macht. Er weiß nicht was, es geht über seinen Horizont, aber zweifellos macht er Fehler.
Auch Nichtstun kann die Dinge zum Eskalieren bringen.
Prompt, als sei sie es gewesen, die ihm diesen Gedanken eingegeben hat, biegt Johanna um die Ecke. Sie fährt mit dem Fahrrad bis vor seine Füße, und derweil er sich ärgert, daß er den Kopfverband vor zwei Stunden abgenommen und anschließend geduscht hat, sagt sie, sie habe ihm etwas zum Lesen mitgebracht. Sie greift in den Korb an ihrer Lenkstange und überreicht ihm mit strahlendem Gesicht einen Quartband, der außen grün marmoriert ist, keinerlei Prägungen aufweist und mindestens drei Kilo wiegt. Philipp öffnet den Band behutsam und liest laut:
— Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Mathemathisch-naturwissenschaftliche Classe. Dreiundsiebzigster Band. Jubelband zur Feier des fünfzigjährigen Bestandes der k.u.k. Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus. Wien 1901.
Während Johanna stolz darauf hinweist, daß das Buch hundert Jahre alt ist, fragt sich Philipp, ob er in Zukunft über die Liebe nachdenken soll, wenn er über das Wetter nachdenkt (wer will es verstehen?). Er spricht Johanna darauf an. Sie winkt ab. Aber wenig später sagt sie, doch, ja, sie glaube schon, daß es sie erregen würde, wenn er ihr, während sie miteinander schlafen, den Artikel über den Wassergehalt von Wolken vorlesen würde. Sie nickt mehrmals mit zusammengepreßten, leicht vorgestülpten Lippen. Dann, nach einer Pause, nickt sie nochmals und lacht.
Wie sie lacht!
— Also: Über den Wassergehalt der Wolken, Absatz, von Doktor Victor Conrad, Absatz, Klammer, aus dem Physikalisch-chemischen Institute der Wiener Universität, Klammer zu, Absatz. Mit fünf Textfiguren, Absatz, Strich, Absatz, Klammer, vorgelegt in der Sitzung am siebzehnten Mai neunzehnhunderteins, Klammer zu, Absatz, Strich, Absatz. Die erste Untersuchung über den Wassergehalt von Wolken und Nebeln hat Schlagintweit im Jahre achtzehnhunderteinundfünfzig angestellt. Er hatte auf der Vincenthütte, Klammer, dreitausendeinhundertzweiundfünfzig Meter, Klammer zu, die an den Hängen des Monte Rosa liegt, längeren Aufenthalt genommen, um den Kohlensäuregehalt der Luft in diesen Höhenschichten zu bestimmen —.
Kichern Johannas, die sich auf dem Weg zu Philipps Zimmer T-Shirt und BH auszieht.
— Da Schlagintweit hiebei –
Neuerliches Kichern Johannas.
— die zu untersuchende Luft durch Kohlensäure absorbierendes Material leitete und den CO 2-Gehalt aus der Gewichtzunahme der absorbierenden Substanzen erschloß, mag ihm der Gedanke gekommen sein, Nebelluft durch Wasser absorbierende Substanz, Klammer, Chlorcalcium, Klammer zu, zu leiten und wieder aus der Gewichtzunahme den Gesamtwassergehalt des aspirierten Luftquantums zu bestimmen, dann die in der Luft enthaltene Feuchtigkeit, Klammer, das gasförmige Wasser, Klammer zu, zu subtrahieren und so den Gehalt an flüssigem Wasser zu erhalten, das in Tröpfchenform in der Luft suspendiert ist. Auf diese Weise findet Schlagintweit im Cubikmeter Wolke cirka zwei Punkt neunundsiebzig Gramm flüssiges Wasser.
Philipp unterbricht den Vortrag und fragt die schon zur Gänze entkleidete und auf dem Rücken liegende Johanna, was sie meine, ob die Wolken mehr dem Regen oder mehr dem Himmel ähneln?
Ohne ihm eine Antwort zu geben, dreht sie sich herum, nimmt ihm das Buch aus der Hand und wirft es neben die Matratze. Es landet mit einem Knall auf dem Dielenboden.
Philipp protestiert:
— Johanna! sagt er: Der Artikel über den Wassergehalt von Wolken soll dich erregen, während wir miteinander schlafen, nicht davor .
Aber sie hört ihm bereits nicht mehr zu. Er überlegt, was er tun soll, vielleicht die Frage wiederholen, ob sie glaube, daß die Wolken dem Himmel näher sind oder dem Regen, und wer dem Sommer verwandter, der Frühling oder der Herbst. Aber dann sagt er sich, daß das im Augenblick gleichgültig ist und ihn vielleicht nie wieder interessieren wird, ihn bedrücken ganz andere Fragen, und selbst die können warten, bis Johanna und er erschöpft nebeneinanderliegen.
Diesmal versucht sogar Johanna den Punkt des Ankommens und die Zeit bis zum Weitermüssen so lange wie möglich hinauszuzögern, als wäre sie jetzt, da die Bettwäsche weiß ist, daraus nicht mehr wegzudenken. Philipp findet sie in dem Moment sehr schön, und er würde sie gerne fragen (Johanna, du, sag mal), ob sie auch Momente kenne, in denen die Wände und Böden und selbst die Augenblicke abwesend sind. Ob sie dann auch bereit sei, jede gemeine Logik und so die Lächerlichkeit, die einen bedrängt, zu leugnen und zu sagen, ich bin und bleibe, wer und wo ich bin, solange es mir paßt.
Er fragt sie nicht, nein. Aber hinterher, hinterher, als es vorbei ist, ob sie —.
— Nein, das ist einfach nicht möglich, Philipp, du willst die Gesetze des Lebens über den Haufen rennen.
Johanna streicht Philipp eine schweißfeuchte Strähne aus dem Gesicht. Ihr Blick sagt ihm, es ist hoffnungslos.
— Weil nur Idioten sich nicht ändern. Jeder vernünftige Mensch schaut vorwärts, und um vorwärts schauen zu können, muß man wissen, was hinter einem ist. Du kannst dir nicht das Gegenteil in die Tasche lügen.
Er denkt: Es ist so wenig, ich muß mir gar nicht viel in die Tasche lügen, es paßt auf einen Daumennagel, alles, was ich lügen muß, kann ich auf einen Daumennagel notieren, und der Rest ist so einfach wie das Wetter.
Johanna sitzt über ihm, betrachtet ihn lange, schaut zwischendurch zur Decke oder zum Fenster. Schließlich, als sei alles Denkbare und Mögliche nebensächlich, erinnert sie ihn an sein vor mehreren Wochen geäußertes Vorhaben, in dem Zimmer, in dem sie gerade miteinander geschlafen haben, die Tapeten herunterzureißen. Sie nickt. Philipp stellt sich vor, wie schön es in dem Zimmer sein würde, wenn unter den Tapeten hervorkäme, was er sich wünscht. Verschiedene Anzeichen, wo sich kleine, im Laufe der Zeit schmutzig gewordene Zungen von selbst gelöst haben, lassen einen von Kleister verwischten roten Anstrich erhoffen, der ihn an Marokko erinnert, wo er noch nie war und wohin er nicht gehen will.
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