Wie sie sei, diese Schwester? Ein blöder Trampel. In diesem Sommer sei sie in Palästina.
Ob er sich so grob ausdrücken müsse? Manchmal tue es gut. Ob er Ruthie nicht trotzdem liebe, so ganz tief und uneingestanden? Das glaube er eigentlich nicht.
Wo er wohne? In Queens.
Ob es in der Wohnung einen Speisenaufzug gebe? Ja.
Ob er sich je als Kind darin versteckt habe? Aber wo! Die Mutter hat aufgepaßt, daß immer abgesperrt war und man nicht hineinfallen konnte.
Ob er Opern liebe? Nein.
Ballett? Er habe nie eines gesehen.
Welcher sein Lieblingsschriftsteller sei? Stephen Crane.
Ob die New Yorker Mädchen wirklich so leichtfertig seien? Diejenigen, die er kenne, nicht.
Ob er schon jemals verliebt gewesen sei? Bisher nicht. »Spielen Sie nicht den Erfahrenen«, sagte sie. »Das könnte ich nicht vertragen - im Ernst.«
»Ich bin nicht erfahren«, sagte er. Vielleicht erschreckte sie die Direktheit seiner Antwort, jedenfalls hörte sie auf, ihn auszufragen, und in schweigendem Einverständnis erhoben sie sich und verließen ihr Meer. Der Strand war fast menschenleer. Die Sonne ging unter, und die Luft war so kühl geworden, daß Ellen fröstelte. Sie begannen zu laufen, um warm zu werden, aber die Steine machten ihren nackten Sohlen zu schaffen.
Sie hob den Fuß, den sie sich blutig gestoßen hatte, und biß sich dabei in die Lippe. »Ein sauberer Steinbruch ist das hier«, sagte sie.
»Da ist der Hotelstrand doch etwas anderes! Ein Sand ist das dort - wie Seide! «
»Guter Witz«, sagte er. Der Hotelstrand war den Gästen vorbehalten.
Den Angestellten bläute man ein, daß sie sofort entlassen würden, wenn man sie dort anträfe.
»Ich gehe jede Nacht dorthin schwimmen. Wenn alles schon schläft.«
Ein Schauer lief über seine Haut. »Darf ich Sie einmal dort treffen?«
Sie sah ihn an und lachte. »Halten Sie mich denn für verrückt?
Ich würde mich doch nie dorthin wagen.« Sie hob ihr Handtuch auf und begann sich trockenzureiben. Ihr Gesicht war sehr rot von der Sonne.
»Geben Sie mir die Lotion«, sagte er. Diesmal gab sie nach, und er rieb ihr Stirn, Wangen und Nacken ein. Ihre Haut war warm und elastisch, und er massierte sie noch lange, nachdem von der Lotion schon keine Spur mehr übrig war.
Langsam gingen sie nach The Sands zurück; als sie ankamen, dämmerte es bereits. Im Gehölz reichte sie ihm die Hand. »Es war ein sehr schöner Nachmittag, Mike.«
»Kann ich Sie heute abend noch treffen? Wir könnten in die Stadt ins Kino gehen.«
»Ich muß morgen zeitig aufstehen.«
»Dann gehen wir einfach ein Stück spazieren.«
»Nicht heute abend.«
»Morgen abend.«
»Überhaupt nicht am Abend«, sagte sie entschlossen. Dann zögerte sie. »Ich bin am nächsten Dienstag wieder frei. Ich würde sehr gern wieder mit Ihnen an den Strand gehen.«
»Also doch eine Verabredung.« Er blieb stehen und sah ihr nach, wie sie den Fußpfad hinaufschritt, sah ihr nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Sie hatte einen so schönen Gang... Er konnte nicht eine ganze Woche warten. Am Mittwoch lud er sie wieder für den Abend ein und erhielt eine entschlossene Abfuhr. Am Donnerstag antwortete sie mit einem knappen »Nein«, in dem Zorn und Tränen mitschwangen, und er trollte sich, schmollend wie ein Kind. In der Nacht darauf konnte er nicht schlafen. Eine Bemerkung, die sie vor zwei Tagen gemacht hatte, kehrte in seiner Phantasie wieder und wieder: der Hotelstrand, wo sie schwimmen ging, wenn alles schlief.
Er versuchte, den Gedanken wegzuschieben, erinnerte sich daran, daß Ellen ihre Bemerkung später als belanglosen Witz dargestellt hatte, aber das beschäftigte ihn nur noch mehr. Der Witz war wirklich sinnlos, und Ellen war nicht das Mädchen, das Unsinn daherredet.
Gegen ein Uhr nachts stand er auf, zog Jeans und Tennisschuhe an.
Er verließ die Unterkunft und ging den Fußpfad hinunter, am Hotel vorbei, auf den dunklen Strand zu. Als er ihn erreicht hatte, zog er die Tennisschuhe aus und trug sie in der Hand. Ellen hatte recht gehabt: der Sand war weich wie Seide.
Die Nacht war wolkenverhangen, aber sehr schwül. Wenn sie wirklich kommt, dachte er, dann ans äußerste Ende des Strandes, möglichst weit weg vom Hotel. Er ging zu dem Podest für die Badeaufseher und setzte sich dahinter in den weichen Sand. The Sands war ein Familienhotel mit keinem nennenswerten Nachtbetrieb. Aus einigen Fenstern fiel noch gelbliches Licht, aber während er wartete, wurde eines um das andere dunkel, wie Augen, die sich zum Schlafen schließen. Er saß da und lauschte dem Wasser, das zischend auf den Sandstrand lief, und fragte sich, was er hier eigentlich verloren habe. Er verspürte ein heftiges Bedürfnis, zu rauchen, aber er fürchtete, irgend jemand könnte das Aufleuchten des Streichholzes oder das Glühen der Zigarette bemerken.
Manchmal nickte er ein wenig ein und riß sich jedesmal wieder hoch zu verdrossener Wachsamkeit.
Aber schon nach kurzer Zeit fühlte er seine Ungeduld schwinden. Es war angenehm, hier zu sitzen und mit den Zehen Löcher in den seidigen Sand zu graben. Es war eine Nacht, in der auch die Luft weich war wie Seide, und Michael wußte, daß sich das Wasser ebenso anfühlen würde. Er dachte über vieles nach, nicht über irgendein spezielles Thema, sondern über das Leben als solches, über sich selbst und New York und Columbia und die Familie und Sexualität und Bücher, die er gelesen, und Bilder, die er gesehen hatte - und das alles völlig entspannt, friedlich und angenehm. Es war sehr dunkel.
Er war schon lange, lange so gesessen, als er ein leises Geräusch vom Wasser her vernahm und plötzlich erschrak: vielleicht war sie schon da, und er hatte es nicht bemerkt. Er stand auf und ging auf das Geräusch zu und wäre beinahe auf drei Sandkrabben gestiegen. Im letzten Augenblick wich er ihnen aus, aber seine Anwesenheit beunruhigte sie mehr als ihn die ihre, und sie verschwanden in der Finsternis.
Sie kam ans Wasser, kaum dreieinhalb oder viereinhalb Meter von der Stelle entfernt, wo er kniete und den enteilenden Krabben nachsah. Der Sand hatte ihre Schritte gedämpft, so daß er sie erst bemerkte, als sie den Strand schon fast überquert hatte. Er wagte nicht, zu rufen, aus Angst, sie zu erschrecken, und als er sich endlich entschlossen hatte, war es zu spät.
Er hörte den Ton vom Öffnen eines Reißverschlusses und dann das Rascheln von Kleidern, hörte, wie die raschelnden Kleider den Sand berührten, und sah undeutlich das Weiß von Ellens Körper. Er hörte das Geräusch ihrer Nägel auf der nackten Haut, als sie sich kratzte; er konnte nicht sehen, wo sie sich kratzte, aber das Geräusch war so überaus intim, daß ihm eines ganz klar wurde: entdeckte Ellen Trowbridge ihn jetzt, wie er da im Sand kniete, ein ungebetener Voyeur, nie wieder würde sie auch nur ein Wort mit ihm sprechen.
Sie ließ sich ins Wasser fallen wie ein Stein. Dann hörte er keinen Laut mehr. Jetzt wäre es Zeit für ihn gewesen, zu gehen, so schnell und so leise wie möglich. Aber nun hatte er Angst um sie. Selbst der beste Schwimmer springt nicht mitten in der Nacht allein ins Meer.
Er dachte an Wadenkrämpfe, an Unterwasserströmungen, ja selbst an die Haie, von denen alle paar Jahre einmal berichtet wurde, sie hätten einen Schwimmer angefallen. Er war nahe daran, nach ihr zu rufen, da hörte er das Platschen des Wassers und sah die Weiße ihres Körpers, als sie an Land kam. Schuldbewußt nahm er die Gelegenheit wahr, sich mit einer laut heranrauschenden Woge in den Sand fallen zu lassen, das Gesicht in den Armen versteckt, während das Wasser an seinen Beinen hinaufspülte und seine Jeans bis an die Hüften durchnäßte.
Als er aufblickte, war sie nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich stand sie ganz in seiner Nähe und ließ ihren Körper von der warmen Brise trocknen. Es war sehr dunkel und sehr still, bis auf das Rauschen des Atlantiks. Plötzlich hörte er, wie sie sich auf die Hinterbacken klatschte, hörte, wie sie lief und sprang, lief und sprang. Ein paarmal kam sie ihm gefährlich nahe, ein weißer Schatten, der sich hob und fallen ließ wie eine verspielte Möwe. Obwohl er nie ein Ballett auf der Bühne gesehen hatte, wußte er doch, daß sie tanzte zu einer Musik, die sie innerlich hörte. Er lauschte ihrem Atem, der schneller ging, wenn sie sprang, und er wünschte sich, einen Schalter drücken zu können, so daß die Szene hell würde, daß er sie sehen könnte, wie sie da tanzte, ihr Gesicht, ihren Körper, das Auf und Ab ihrer Brüste im Sprung, all die Stellen ihres Körpers, die er sie berühren gehört, und alle, die sie nie berührt hatte. Aber es gab keinen Schalter, und bald wurde sie müde und hörte auf zu tanzen. Eine Weile noch blieb sie schwer atmend stehen, dann hob sie ihre Kleider auf und schritt nackt zurück, woher sie gekommen war. Am Strand gab es eine frei zugängliche Dusche, wo die Gäste sich Sand und Salz von der Haut waschen konnten. Er hörte es zischen, wie sie an der Kette zog - dann war die Nacht ganz still.
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