Zwei Minuten später
RE:
Danke, Leo! Jetzt kannst du sämtliche deiner Schreckensszenarien oder sonstigen Visionen wieder vergessen. Das Treffen wird kurz sein. Sagen wir: zehn Minuten. Ich würde gern einen Whiskey mit dir trinken. Einen, nur einen! (Du kannst stattdessen auch ein Glas Rotwein haben.) Und dann — das ist der Grund meiner Einladung —, dann will ich dir etwas geben. Die Übergabe wird nicht länger als fünf Sekunden dauern. Danach bist du entlassen, mein Lieber.
Eine Minute später
AW:
Was willst du mir geben?
Zwei Minuten später
RE:
Etwas Persönliches. Ein Erinnerungsstück. Ich verspreche dir: kein Pathos, keine Szene, keine Träne. Nur ein Schluck Whiskey, eine kleine Übergabe. Und: tschüss. Es wird nicht wehtun.
Ich meine, vergleichsweise und in Anbetracht der Situation. Also komm!
40 Sekunden später
AW:
Wann?
30 Sekunden später
RE:
Um acht?
40 Sekunden später
AW:
Um acht. Gut, um acht.
30 Sekunden später
RE:
Also dann. Bis acht!
40 Sekunden später
AW:
Bis acht!
Zwei Wochen später
Betreff: Lebenszeichen
Hallo Emmi, wie geht es dir? (Dass man da nicht einmal eine andere Formulierung verwenden kann. Aber welche?) Mir würde es verdammt guttun zu wissen, dass es dir halbwegs gut geht. Ich denke oft an dich. Immer wenn (…), ich glaube, du weißt, was ich meine. Danke dafür! Leo.
Drei Tage später
RE:
Hallo Leo, nett von dir zu hören. War dir danach? War dir denn wirklich danach? Oder war das nur die übliche Schweigebrechens-, Trennungsmitleids-, Gewissenberuhigungs-, Distanzüberwindungs-Floskel? Ja, Leo, es geht mir halbwegs gut. (Warum gehst du eigentlich davon aus, dass es mir höchstens »halbwegs« gut gehen kann?) Jedenfalls geht es mir tatsächlich nicht gut genug, dich im Gegenzug zu fragen, wie es dir geht. Ich will's nicht hören. Mir würde es nämlich gar nicht so verdammt guttun, wüsste ich, dass es dir doppelt so gut wie »halbwegs gut« ginge. Und davon gehe ich aus. Gruß aus der Ferne. Emmi.
Eine Woche später
Betreff: Jetzt
Liebe Emmi, ja, doch, mir war gerade ziemlich danach! Gute Nacht. Leo.
Einen Tag später
RE:
Freut mich! Nacht. Emmi.
Zwei Wochen später
Betreff: So ein Zufall aber auch schon
Hi Leo. Kann es sein, dass »Pam« so eine große blonde schlanke langbeinige Hübsche ist, so ein Typ wie deine Schwester Adrienne? Etwa in meinem Alter? Vielleicht zwei, drei Jahre jünger? Mein Steuerberater hat nämlich bei dir um die Ecke sein Büro. (Nein, Leo, er ist nicht deshalb mein Steuerberater!) Und wie ich bei deinem Haustor vorbeigehe, schießt so eine dieser langen, ich meine eine dieser eher groß gewachsenen, gutaussehenden, blass geschminkten Frauen heraus, wie sie im Versandhauskatalog oft die Winterkollektion präsentieren. Die war durch und durch nordamerikanisch, der lange Hals, die hellbraunen Schuhe, die eckige Handtasche, das tornadogeeichte kantige Kinn und ihre Kieferbewegungen, die Art und Weise, wie sie Kaugummi gekaut hat. So lernt man es garantiert in Boston. Das muss »Pam« gewesen sein. Na ich war vielleicht überrascht! Was sagst du, ist die Welt nicht klein? LG, Emmi.
Drei Tage später
Betreff: Sauer?
Bist du sauer, Leo? Zu deiner Beruhigung: Den nächsten Termin beim Steuerberater habe ich erst in sechs Monaten.
Eine Stunde später
AW:
Liebe Emmi, ich habe dir natürlich nichts vorzuschreiben. Aber ich würde dich bitten, deine auf Zufall und Steuerberatung aufgebauten Erkundungstrips in meiner Wohngegend zu unterlassen. Was soll das bringen? Liebe Grüße, Leo.
PS: Pamela kaut niemals Kaugummi, weder nordamerikanisch noch südamerikanisch noch sonstwie.
Drei Stunden später
RE:
Dann hatte sie eben gerade einen Bissen Cheeseburger im Mund. Leo, sei ein bisschen cooler. Du verstehst überhaupt keinen Spaß! Was ist denn schon dabei, wenn ich »Pam« erkenne? Oder kenne? Vielleicht mögen wir uns, werden eines Tages dicke Freundinnen, machen gemeinsame Urlaube, vergleichen unsere Tagebuchaufzeichnungen über Leo Leike. Und dann gründen wir eine Dreier-WG. Oder eine Fünfer-WG, und ich passe am Abend auf die beiden Kinder auf. (…) Okay, ich höre schon auf. Ich glaube, du findest das nicht besonders lustig. Ich eigentlich auch nicht, je mehr ich darüber nachdenke. Angenehme, ungestörte Feiertage mit ausgiebigen Terrassenaufenthalten auf Top 15, wünscht euch Emmi. Ich verreise!
Eine Woche später
Betreff: Die siebente Welle
Hallo Leo. Ich sitze auf meinem Balkon in Playa de Alojera auf La Gomera und blicke über die Steinbucht mit ihren dunklen Sandflecken und schäumend weißen Salzzungen tief hinein ins Meer und weiter, bis hin zu der waagrechten Linie, die hellblau von dunkelblau, Himmel von Wasser trennt. Weißt du, wie schön es hier ist? Da müsst ihr unbedingt einmal herfliegen. Dieser Ort hier ist wie geschaffen für Frischverliebte.
Warum ich dir schreibe? Weil mir danach ist. Und weil ich nicht wortlos auf die siebente Welle warten will. Ja, hier erzählt man sich die Geschichte von der unbeugsamen siebenten Welle. Die ersten sechs sind berechenbar und ausgewogen. Sie bedingen einander, bauen aufeinander auf, bringen keine Überraschungen. Sie halten die Kontinuität. Sechs Anläufe, so unterschiedlich sie aus der Ferne betrachtet auch wirken, sechs Anläufe — und immer das gleiche Ziel.
Aber Achtung vor der siebenten Welle! Sie ist unberechenbar. Lange Zeit ist sie unauffällig, spielt im monotonen Ablauf mit, passt sich an ihre Vorgängerinnen an. Aber manchmal bricht sie aus. Immer nur sie, immer nur die siebente Welle. Denn sie ist unbekümmert, arglos, rebellisch, wischt über alles hinweg, formt alles neu. Für sie gibt es kein Vorher, nur ein Jetzt. Und danach ist alles anders. Ob besser oder schlechter? Das können nur jene beurteilen, die von ihr erfasst worden sind, die den Mut gehabt haben, sich ihr zu stellen, sich in ihren Bann ziehen zu lassen.
Nun sitze ich seit gut einer Stunde hier, zähle die Wellen ab und beobachte, was jeweils die siebenten treiben. Noch ist keine von ihnen ausgebrochen. Aber ich bin im Urlaub, ich bin geduldig, ich kann warten. Ich gebe die Hoffnung nicht auf! Hier über der Westküste bläst starker warmer Südwind. Emmi.
Fünf Tage später
Betreff: Zurück?
Hallo Emmi, ich danke dir für deine Meeres-E-Mail. Und? Ist sie ausgebrochen, die siebente Welle? Hast du dich von ihr erfassen lassen? Alles Liebe, Leo.
Drei Tage später
Betreff: Alle sieben Wellen
Mir kam deine Geschichte irgendwie bekannt vor und so habe ich über die siebente Welle nachgelesen, liebe Emmi. Der ehemalige Strafgefangene Henri Carriere hat sie in seinem biographischen Roman »Papillon« beschrieben. Nachdem er auf der Teufelsinsel vor der Küste Französisch-Guayanas gestrandet war, beobachtete er wochenlang das Meer und bemerkte, dass jede siebente Welle höher war als die anderen. Von so einer siebenten — er taufte sie »Lisette« — ließ er sein Kokosnussfloß schließlich auf die See hinaustreiben, was seine Rettung bedeutete.
Aber eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass du mir fehlst, Emmi.
Einen Tag später
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