Zehn Minuten später
RE:
Das war böse, Leo! Wenn ich zynisch bin, dann bin ich nur zynisch. Wenn du zynisch bist, dann bist du richtig böse.
Übrigens: ICH habe deinen Zug nicht abfahren lassen, mein Bester. Ich hatte damals vielmehr geschrieben: »Unser gemeinsamer Zug ist abgefahren«. Das ist ein Unterschied. Du tust gerade so, als hätte ich deinen Zug eigenhändig abgefertigt und dich in die Verdammnis geschickt. (Ich meine jetzt nicht »Pam«!) Leo, unseren gemeinsamen Zug haben wir beide sausen lassen, das war professionelle Teamarbeit nach monatelangem hartem Stationsversäumnis-Training. Sei dir dessen bitte bewusst. Gute Nacht.
Drei Minuten später
RE:
Und verzeihe mir die Partnerlook-Ringelsocken. Das war wirklich gemein.
Eine Minute später
AW:
Aber es hat dir Spaß gemacht.
20 Sekunden später
RE:
Ja, riesig!
30 Sekunden später
AW:
Dann hat es schon seinen Zweck erfüllt. Schlaf gut, liebe Spötterin!
20 Sekunden später
RE:
Du auch, du lieber Spott-Wegstecker! Was ich besonders an dir schätze: Du verstehst Spaß, auch wenn er gegen dich gerichtet ist.
40 Sekunden später
AW:
Weil ich dich gerne lachen sehe. Und nichts scheint dich mehr zu erfreuen als gegen mich gerichteter Spaß.
30 Sekunden später
RE:
Du, Leo, ich mag übrigens Ringelsocken! Du siehst sicher süß darin aus. Noch unschuldiger als sonst. Gute Nacht!
Am nächsten Tag
Betreff: Meine Frage
Liebe Emmi, meine heutige Frage lautet: »Wie geht es mit dir und Bernhard weiter?«
Fünf Minuten später
RE:
Leo, nein! Muss das sein?
Sieben Stunden später
Betreff: Bernhard
Also gut. Er fliegt mit mir zu Ostern ohne Kinder eine Woche auf die Kanarischen Inseln, nach La Gomera. Ich betone: ER fliegt mit mir, nicht ich mit ihm. Aber ich fliege wahrscheinlich mit. Ich werde es geschehen lassen. Ich finde es mutig von ihm. Er hat nichts zu erwarten und erwartet sich alles. Er glaubt an die Rückeroberung meiner Gefühle, an die Wiederkehr der großen Liebe, eingebettet in Sand, Salz, Sonnenöl und Steine. Na ja. Ich werde vielleicht den Segelschein machen.
Fünf Minuten später
AW:
Heißt das, du gibst eurer Ehe noch eine Chance?
Drei Minuten später
RE:
Disziplin, lieber Leo! Nur eine Frage pro Tag!
Zwei Minuten später
AW:
Gut, dann stelle ich sie dir morgen noch einmal. Und was ist mit deiner Frage?
Vier Minuten später
RE:
Die hebe ich mir für das Hauptabendprogramm auf. Den heutigen »Tatort« habe ich schon einmal gesehen.
Fünf Stunden später
Betreff: Meine Frage
Hier meine Frage: »Spürst du ihn noch?«
Zwei Stunden später
RE:
Lieber Leo, jede Frage muss beantwortet werden!
Zwei Stunden später
RE:
Feigling! Du hättest ruhig zugeben können, dass du nicht weißt, wer »er« ist, den du spüren solltest. Das wäre dann wenigstens eine stilvolle Umschreibung dafür gewesen, dass du ihn eben nicht mehr spürst. Denn würdest du ihn spüren, wüsstest du, wer »er« ist. Tröste dich: Ich habe auch nicht damit gerechnet. Es ist spät, ich gehe schlafen, gute Nacht. Noch sieben Mal aufstehen, dann sind wir durch. Emmi.
20 Minuten später
Betreff: Natürlich!
Hallo Emmi, ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Zu deiner Frage: »Ja, natürlich, ich spüre ihn noch.« Gute Nacht, Leo.
Drei Minuten später
RE:
Halt, Leo! Ich bin (plötzlich) hellwach und muss dir leider mitteilen: So kannst du dich nicht in den Schlaf stehlen, auch nicht zu dieser Stunde, das lasse ich nicht zu, das entspricht nicht dem Reglement! »Ja, natürlich, ich spüre ihn noch«, ist eine Null-Ansage, keine Antwort, nicht einmal eine ausweichende. Du hast mir keinen Hinweis dafür geliefert, dass du weißt, wer er ist, den du spüren solltest. Wahrscheinlich bluffst du nur, um deine Ruhe zu haben. Aber, tut mir leid, mein Lieber: Du bist mir noch eine wirkliche Antwort schuldig!
15 Minuten später
AW:
Ich habe ebenso kryptisch geantwortet, wie du gefragt hattest, liebe Emmi. Du hast »ihn« nicht beim Namen genannt, weil du mich auf die Probe stellen wolltest, ob ich denn noch wüsste, wer »er« sei. Ich habe »ihn« nicht beim Namen genannt, weil ich dich auf die Probe stellen wollte, ob du mir vertrauen würdest (hast du nicht!), dass ich wüsste, wovon ich spreche, woran ich denke und was ich spüre, wenn ich an dich denke. Zum Beispiel: »ihn«. Ja, immer noch. Manchmal stärker, manchmal schwächer. Manchmal muss ich ihn erst mit der Kuppe des Mittelfingers freilegen. Manchmal streichle ich ihn mit dem Daumen der anderen Hand. Meistens meldet er sich von selbst. Ich kann noch soviel Wasser darüber laufen lassen, er lässt sich nicht wegwaschen, er taucht immer wieder auf. Manchmal kitzelt er, dann schreibst du mir vermutlich gerade eine zynische E-Mail. Und manchmal tut er richtig weh, dann vermisse ich dich, Emmi, und wünschte, alles wäre anders gekommen. Aber ich will nicht undankbar sein. Ich habe »ihn«, deinen Berührungspunkt in der Mitte der Handinnenfläche. Darin sind alle Erinnerungen und Sehnsüchte verpackt. In diesem Punkt vereint sich die komplette Emmi-Vollausstattung mit allem nur erdenklichen Zubehör für den anspruchsvollen In-die-Weite-der-Wunschlandschaften-Starrer Leo Leike. Gute Nacht!
Sieben Minuten später
RE:
Danke, Leo. Das war schön! Ich wäre jetzt gerne bei dir!
Eine Minute später
AW:
Das bist du!
Am nächsten Tag
Betreff: Meine Frage
Hallo Emmi, wie bereits angekündigt, wiederhole ich meine Frage vom Vortag: »Gibst du eurer Ehe noch eine Chance?«
Zwei Stunden später
RE:
Spannend, spannend! Nach dem romantischen Nacht-Leo, der so, so, so einvernehmend von Berührungspunkten sprechen kann, nun also wieder der nüchterne Tages-Leo, der Mailboxseelsorger, der um die Beziehungen seiner Vertrauten kämpft, als wäre er daran umsatzbeteiligt. Hmmmm. Ich schalte da einmal meine Frage dazwischen. Sie lautet: »In den ersten Mails nach dem Wiedereinstieg in meine Leo-Schreibbeziehung habe ich dir erzählt, dass ich mit Bernhard auch viel über dich, über uns beide geredet habe. Wieso fragst du mich nicht, was wir da geredet haben? Wieso willst du Bernhard ausschließlich isoliert von dir betrachten? Wieso begreifst du nicht, dass mein Verhältnis zu ihm mit meinem Verhältnis zu dir in Zusammenhang steht?«(Und behaupte jetzt bitte nicht, das wären drei Fragen gewesen. Es waren drei Fragezeichen, aber es war ein und dieselbe Frage!)
Drei Stunden später
AW:
Liebe Emmi, ich möchte nicht, dass du mit Bernhard über mich redest, zumindest will ich nichts davon wissen. Ich gehöre weder zu eurer Familie noch zu eurem Freundeskreis. Ich will einfach nicht wahrhaben, dass dein Verhältnis zu ihm mit deinem Verhältnis zu mir zusammenhängt. Ich will es einfach nicht! Ich wollte nie gegen ihn ankämpfen. Ich wollte ihn nie verdrängen. Ich wollte mich nie in euer Eheleben hineinpressen. Ich wollte deinem Mann nichts von dir wegnehmen. Und ich ertrage umgekehrt auch nicht die Vorstellung, dass ich für dich nur die Ergänzung zu ihm war und bin. Für mich gab es von Anfang an nur entweder »entweder« oder »oder«. Das heißt: Als du selbst sagtest, dass du »glücklich verheiratet« wärest, gab es für mich eigentlich nur noch »oder«. Schönen Abend, Leo.
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