Einmal trafen sich ihre Blicke, doch Laila sah in den Augen von Khala Rangmaal, ihrer alten Lehrerin, keinen Hinweis darauf, dass sie in ihr die Schülerin von damals wiedererkannte.
»In der Erdkruste gibt es Bruchstellen«, sagte Aziza. »Die nennt man Verwerfungen.«
Es war an einem warmen Freitagnachmittag im Juni 2001. Sie saßen im Hinterhof des Waisenhauses, alle vier: Laila, Zalmai, Mariam und Aziza. Raschid hatte sich ausnahmsweise bequemt, sie zu begleiten. Er wartete vor der Bushaltestelle weiter unten an der Straße.
Barfüßige Kinder lungerten um sie herum und kickten lustlos einen platten Fußball hin und her.
»Zu beiden Seiten der Verwerfungen liegen Gesteinsschichten aufeinander; das ist die Erdkruste«, führte Aziza aus.
Jemand hatte ihr die Haare aus dem Gesicht gekämmt, zu Zöpfen geflochten und am Kopf festgesteckt. Laila beneidete alle, denen es vergönnt war, hinter ihrer Tochter zu sitzen, das Haar zu teilen, zu flechten und sie aufzufordern stillzuhalten.
Aziza demonstrierte mit nach oben geöffneten Händen die Reibung der Platten. Zalmai schaute mit großem Interesse zu.
»Kektonische Platten, so heißen sie, oder?«
»Tektonische«, korrigierte Laila. Zu sprechen tat ihr weh. Kiefer, Hals und Nacken schmerzten. Die Lippe war geschwollen, und die Zunge fuhr immer wieder in die Lücke des unteren Schneidezahns, den Raschid ihr zwei Tage zuvor ausgeschlagen hatte. Bis zum Tod ihrer Eltern, der ihr Leben auf den Kopf gestellt hatte, hätte Laila nicht für möglich gehalten, dass ein menschlicher Körper so viel brutale Schläge aushalten konnte und trotzdem noch zu funktionieren im Stande war.
»Genau. Und wenn sie aneinander entlangschaben, bleiben sie immer wieder hängen und rutschen dann weiter, siehst du, Mami, und dabei wird Energie frei, die die Erdoberfläche durcheinanderschüttelt.«
»Wie gescheit du schon bist!«, lobte Mariam. »Viel gescheiter als deine dumme khala !«
Azizas Miene verfinsterte sich. »Du bist nicht dumm, Khala Mariam. Und Kaka Zaman sagt, dass sich die Felsen auch ganz tief im Innern bewegen, dass da gewaltige, unheimliche Kräfte wirken, die wir aber hier oben nur als ein kleines Zittern wahrnehmen. Nur ein kleines Zittern.«
Beim letzten Besuch hatte Aziza von Sauerstoffatomen in der Atmosphäre berichtet, die das Sonnenlicht bläulich erscheinen ließen. »Wenn es keine Atmosphäre gäbe«, hatte sie fast atemlos gesagt, »wäre der Himmel nicht blau, sondern ein stockdunkles Meer und die Sonne darin ein großer heller Stern.«
»Kommt Aziza diesmal mit, wenn wir nach Hause gehen?«, fragte Zalmai.
»Diesmal noch nicht, aber bald, mein Liebling«, antwortete Laila. »Bald.«
Laila sah ihn auf die Schaukel zugehen. Er bewegte sich wie sein Vater: ein wenig nach vorn gebeugt und die Fußspitzen nach innen gekehrt. Er brachte den leeren Sitz der Schaukel in Schwung, setzte sich dann auf den Betonboden und zupfte Unkraut aus einem Spalt.
»Aus den Blättern verdunstet Wasser, Mami, wusstest du das? So wie aus der Wäsche, die zum Trocknen an der Leine hängt. Und das Wasser steigt in den Bäumen auf, aus der Erde und durch die Wurzeln, durch den Stamm und die Äste bis hin zu den Blättern. Das nennt man Transpiration.«
Laila fragte sich immer wieder, was wohl geschähe, wenn die Taliban Kaka Zaman dabei ertappten, dass er die Kinder heimlich unterrichtete.
Während der Besuche ließ Aziza keinen Moment Ruhe aufkommen. Sie redete unablässig, führte mit hoher, heller Stimme aus, was sie im Unterricht gelernt hatte, und gestikulierte mit hektischen Handbewegungen, die so gar nicht typisch für sie waren. Sie lachte auch anders. Es war im Grunde weniger ein Lachen als ein nervöses Zeichensetzen, mit dem sie sich, wie Laila vermutete, Mut zu machen versuchte.
Auffällig waren auch andere Veränderungen. Laila bemerkte, dass sie immer schmutzige Fingernägel hatte. Wenn Aziza sah, dass ihr die Mutter auf die Finger schaute, beeilte sie sich, die Hände unter den Schenkeln zu verstecken. Wenn einem schreienden Kind der Schnodder auf den Lippen hing oder wenn eines mit bloßem Hinterteil und vor Dreck starrendem Haar an ihnen vorbeikam, verdrehte Aziza die Augen und entschuldigte sich für das Kind. Sie verhielt sich wie eine Gastgeberin, die sich vor ihren Gästen für ihr schmutziges Haus und die ungezogenen Kinder schämte.
Wenn sie gefragt wurde, wie es ihr in diesem Haus ergehe, gab sie jedes Mal eine heitere Antwort, die kaum überzeugen konnte.
»Prima, Khala. Mir geht’s gut.«
Ob sie von den anderen gehänselt werde?
»Nein, Mami. Sie sind alle nett.«
Ob sie genug zu essen bekäme und gut schlafen könne?
»Ja. Gestern Abend gab’s Lammfleisch. Oder war’s letzte Woche? Und schlafen kann ich auch.«
Bei solchen Antworten hörte Laila Mariam aus ihrer Tochter sprechen.
Aziza stotterte, was Mariam als Erste bemerkte. Es war ein leichtes, aber wahrnehmbares Stottern und fiel vor allem bei Wörtern auf, die mit einem T anfingen. Laila sprach Zaman darauf an. Er runzelte die Stirn und sagte: »Ich dachte, das hätte sie immer schon getan.«
An diesem Freitagnachmittag verließen sie mit Aziza das Waisenhaus, um einen Ausflug mit ihr zu unternehmen. Als Zalmai seinen Vater an der Bushaltestelle warten sah, quiekte er vor Vergnügen und wand sich voller Ungeduld in Lailas Armen. Azizas Gruß war knapp, aber nicht unfreundlich. Sie hegte keinen Groll gegen Raschid.
Raschid sagte, sie sollten sich beeilen; er habe nur zwei Stunden Zeit und müsse sich dann an seinem Arbeitsplatz zurückmelden. Er war Anfang der Woche als Portier beim Intercontinental angestellt worden. An sechs Tagen in der Woche musste er von zwölf Uhr mittags bis acht Uhr abends Autotüren aufhalten, Koffer tragen und den Eingangsbereich sauber halten. Nach getaner Arbeit ließ ihn der Koch des Selbstbedienungsrestaurants Essensreste für zu Hause einpacken: kalte, ölige Fleischbällchen, gebratene, ausgetrocknete Hähnchenflügel, von denen die knusprige Haut abgefallen war, verklebte Nudeltaschen oder steif gewordenen Reis. Voraussetzung für die Gefälligkeit war, dass er Stillschweigen darüber bewahrte. Raschid hatte Laila versprochen, dass Aziza nach Hause zurückkommen könne, sobald er etwas Geld angespart habe.
Er trug seine Livree, einen burgunderroten Anzug aus Polyester, ein weißes Hemd, eine Ansteckkrawatte und eine Schirmmütze, gegen die sich sein weißes Kraushaar sträubte. In dieser Uniform war Raschid wie ausgewechselt und kaum wiederzuerkennen. Er wirkte darin verletzlich und verwirrt, geradezu erbärmlich und harmlos, wie jemand, der die entwürdigenden Zumutungen, die das Leben für ihn bereithielt, ohne jeden Protest hinnahm und in seiner Fügsamkeit lächerlich und bewundernswert zugleich war.
Mit dem Bus fuhren sie zur sogenannten Titanic City, jenem wild auswuchernden Markt, wo sich zu beiden Seiten des ausgetrockneten Flussbettes ein provisorischer Verkaufsstand an den anderen reihte. Nahe der Brücke hing unter einem Kranausleger ein Toter mit abgeschnittenen Ohren und gebrochenem Genick an einem Seil. Unmittelbar daneben führten die Treppenstufen entlang, auf denen Raschid und seine Familie die Uferböschung hinabstiegen. Unten im Wadi erwartete sie ein Gewimmel von Menschen, Käufern und Verkäufern, Geldwechslern und Spendensammlern, Zigarettenhändlern und verschleierten Frauen, die gefälschte Rezepte für Antibiotika feilboten und um Almosen bettelten. Naswar kauende Taliban passten mit gezückten Peitschen darauf auf, dass niemand unanständig lachte und keine Frau den Schleier lüftete.
Zwischen einem Händler von poosteen -Mänteln und einem Stand mit künstlichen Blumen entdeckte Zalmai einen Kiosk voller Spielzeug und griff zielstrebig nach einem Basketball mit gelben und blauen Wirbelmustern.
Читать дальше